Wenn es ganz still wird

Völlig hibbelig stand ich mit allen anderen vor der Matte. Manche banden noch ihre Hakamas, andere dehnten bereits ein wenig die Muskeln und wieder andere hörten einfach den Gesprächen zu, die das Wirbelige des Tages spiegelten. Die Abendstunden zeigten ihr Dunkel an den Fenstern, doch hier im Dojo leuchtete es hell im Schein von Lampen und Kerzen.

Ich mochte das Stimmengewirr, dies Miteinander, das gemeinsame Lachen und Witzeln. Es zeichnete den vergangenen Tag in verschiedenen Farben, die sich dann wie in einem Kaleidoskop für das kommende Training zusammenfanden.

Unsere Trainerin blickte kurz zur Uhr, klatschte und jeder fand seinen Platz im Seiza sitzend auf der Matte. Als sich Ruhe ausbreitete, ging sie zum Lichtschalter und löschte eine Lampe nach der anderen. Übrig blieben all die kleinen Lichter auf der Fensterbank, auf der Treppe im Hintergrund und am Mattenrand.

Mit meinem Atmen senkte sich das Halbdunkel auf mein Innerstes. Das eigentümlich Wunderschöne fiel herab … Mein Körper spürte, worauf ich mich freute: Das Bunte des Miteinanders fand sich als bewegtes Muster auf den weichen Matten wieder; gleich der Matrix, die Schwalben über Gras nach einem Regen zeichneten. Denn die Lichter der Kerzen tasteten sich flackernd und tanzend voran. Das Hektische des Tages, das Unrunde und Kantige verlor sich, als verbrenne das Schöne beruhigende duftende Kräuter über kleine Flammenmuster, die sich hier im Raum bewegten.

In den folgenden zwei Stunden waren Worte nicht wichtig. Heute zeigten Gesten das zu Lernende. Bewusst verzichteten wir auf eine Form der Kommunikation, um einen anderen Blickwinkel zu finden. Etwas ganz Schlichtes veränderte somit das Übliche. Gleich einem Schritt zur Seite, nahmen wir uns selbst aus einer anderen Sicht wahr: Verzicht entfaltete Raum, um dies möglich zu machen.

Ich betrachtete Julias Zeichen und Mimik bei der Demonstration einer Technik. Obwohl die Mitte der Matten in einem Halbdunkel lag, sprachen ihre Bewegungen für sich. Hätte mich jemand vorher gefragt, so hätte ich geglaubt, dass Worte keinesfalls ersetzbar seien, um etwas vernünftig zu demonstrieren. Vielleicht lag das Geheimnis auch darin verborgen, dass ein Betrachter seine Aufmerksamkeit in einem größeren Maße bündelte, um nichts zu verpassen. Vielleicht gab Vorhandenes wie Fehlendes unserem Geist einen Hinweis, inwieweit wir unsere Ressourcen einsetzen sollten, damit uns auf keinem Fall etwas Wichtiges entging.

So stand ich meinem Trainingspartner gegenüber und dachte über Worte nach, die ich gebrauchen könnte, um eine Frage zu formulieren, weil gerade etwas nicht klappte. Es war mit Sicherheit immer der einfachere Weg einen Fortgeschrittenen zu fragen, worin der eigene Fehler lag. Das konnte ich heute nicht. Doch mein Gegenüber war geduldig und verharrte in seinen Bewegungen oder zeigte mir mit seinen Händen leichte Richtungsangaben, die mich auf den richtigen Weg brachten. Es ging voran, aber anders.

Wir mussten uns selbst ein Bild von dem schaffen, was wir lernen wollten. Ohne einen maßgeschneiderten Schwerpunkt, der griffbereit einem Schüler ausgehändigt wurde, oblag es ganz allein dem Einzelnen, was er zu erkennen vermochte. In meinen Augen eine fortgeschrittene Variante des Lernens, die wesentlich mehr abverlangte. Der eigenartige Vorteil lag darin, dass ein Schüler nur dort weitermachen konnte, wo er stand; er würde nur das passende Puzzlestück für sich aus dem Gezeigten entnehmen können.

Ob dies immer zum Vorteil gereichte, kann ich nicht sagen. Manchmal brauchten wir auch Erkenntnisse, die uns über unser eigenes Können hinaustrugen, damit sich erahnen ließ, in welche Richtung wir weiter forschen sollten.

Wenn ein Gegenüber schwieg, dann war dies oft nur schwer auszuhalten. Wir wollten dann nur zu gern diese empfundene Lücke füllen. Durften Worte aber in Zeiten des Schweigens nicht gesprochen werden, dann sah unser Geist ein leeres Feld mit verdunkeltem Ende, das wir nicht einschätzen konnten. Alles in uns strebte nach einem Ausfüllen, egal in welcher Hinsicht. Somit weitete sich unser Innerstes, füllte und erhellte diesen inneren Raum, um schließlich festzustellen, wie unglaublich angenehm sich dieser Zustand anfühlte.

Worte waren mögliche Brücken, die wir betreten konnten oder nicht. Manchmal war der Weg drum herum viel aufregender …


Trainerin: Julia Wagner, 4. Dan.

Trainingsort: https://aikidozentrum.com/