Das Lächeln der Bäume

Leichter Nebel stand zwischen den Bäumen. Die Nacht war empfindlich abgekühlt, obwohl der Boden noch von den letzten Tagen ein klein wenig Wärme in sich trug. Der Wald schien verwunschen, unwirklich und fernab von allem. Ich fühlte mich in den frühen Morgenstunden wie in einem Märchen, das nur für mich erzählt wurde. Die große Kastanie am Wendepunkt meines schmalen Weges fasste mit ihren Wurzeln in alle Richtungen. Ich liebte sie und hielt mich deshalb oft in ihrer Nähe auf; einfach so, einfach schön.

Meine Hände spürten ihre grobe Rinde und auch das Wachwerden im Innern. Manchmal vergaß ich beim Hineinhorchen die Zeit und musste den Rückweg laufen, damit ich die gestohlene Stunde wieder einholte. In besonders stillen Momenten hörte ich das Rauschen, wenn der Baum im Frühjahr das erste Wasser aus dem Boden sog. Ich spürte auch seine Ungeduld und ich glaubte seine Freude über den kommenden Tag mitzuempfinden, die sich morgens auf mich übertrug. Ich fühlte mich aufgeladen, umsorgt und befreit von allen Gedanken des Alltags. So stand ich da und wartete auf die ersten durchdringenden Sonnenstrahlen. Der erste Lichtfleck wanderte in meine Richtung und verharrte. Lächelnd betrachtete ich den aufgewühlten Boden. Wildschweine wollten an die Wurzeln.

Verträumt blickte ich über die tiefdunkle Erde und sah einen glitzernden Licht-Punkt auf dem Boden. Wie in einer der mir unzählig bekannten Geschichten zeigte sich etwas in diesem Morgendunst. Lächelnd über meine eigenen Gedanken ging ich zum Erdloch, einfach um mich wie die Abenteuerin meiner Kindheit zu fühlen. Irgendwie konnte ich solche Überlegungen niemals aufgeben, wahrscheinlich kraxelte ich noch mit 80 in den Eingeweiden unbekannter Stätten herum, nur weil es so aufregend schön war. Trotzdem überraschte es mich tatsächlich, in den Tiefen des Bodens einen Stein zu finden, der eindeutig hier nicht hingehörte. Er war ein klein wenig konkav, besaß die Festigkeit von Granit und zeigte eine glatte Oberfläche gleich einem stillen See mit den Farben einer tiefgründigen Mittelmeerbucht. Er fühlte sich toll an. Goldene Fäden durchzogen den dunkelblauen Stein und spiegelten sich in der Sonne. Absolut begeistert rieb ich die Erde ab und polierte das gute Stück an meiner Jeans. Es war ein Handschmeichler!

Knacken im Untergehölz ließ mich von meinem Fund aufblicken. Erschrocken stand ich auf und durchsuchte mit etwas zusammengekniffenen Augen die Sträucher; wenn irgendein Wildschwein ein Junges suchte, wären die unteren Äste meines Freundes die Fluchtrichtung. Adrenalin durchspülte meine Adern und meine Atmung wurde etwas kürzer. Nichtsdestotrotz stand ich mutterseelenallein im Wald, auch wenn ich mich hier eigentlich niemals ängstlich fühlte.

Keuchend vor Anstrengung kämpfte sich ein alter Mann durch das Gewirr tief hängender Äste und blieb keine zwei Meter vor mir stehen. Sein Erscheinen überraschte mich, schließlich befanden wir uns beide nicht auf dem Hauptweg.

Mit großen Augen starrte ich den frühen Besucher an; er tat das gleiche. Im zweiten Moment lächelten wir beide, nickten uns zu und wussten nicht so recht, was wir nun sagen sollten. Immerhin schaffte ich es zu einem „Moin! “. Er grüßte ebenso. Irgendwie empfanden wir beide die Situation merkwürdig, was sie auch vermutlich war.

Wir musterten uns gegenseitig, um wahrscheinlich jeder für sich festzustellen, dass das Gegenüber ok war. Ich für meinen Teil bemerkte noch ganz nebenbei seine auffällige Erscheinung: Der gepflegte längere, weiße Bart stach sofort ins Auge; heutzutage trugen die älteren Männer selten lange Bärte. Ich fand es schön, denn es betonte seine von der Sonne gebräunte Haut, die von unzähligen Lachfältchen übersäht zu sein schien und seine grau-blauen Augen fast leuchten ließen.

Etwas verunsichert räusperte ich mich: „Ähm, auch so früh auf den Beinen? Das ist ja eher ungewöhnlich …“

Er lachte: „Das kann ich nur erwidern. Ich habe mich ganz schön erschrocken, als ich dich hier am Baum sah. Normalerweise treffe ich hier niemanden.“

Überrascht schaute ich ihn an: „Sie sind öfter hier?“ Er duzte mich, doch das konnte ich nicht. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart wie ein junges Mädchen, das eigentlich zur Schule sollte und hier nichts zu suchen hatte.

Er nickte und schaute fast liebevoll auf den Baum. „Das ist ein wunderbarer Ort, außerdem besuche ich ihn so oft ich kann.“

Irritiert überlegte ich einen Moment. Er meinte MEINEN Baum! Ich musste trocken schlucken. „Das kann ich verstehen, er ist besonders.“

Wir standen nun gemeinsam vor dem Baum und betrachteten ihn. Eigentlich wäre ich noch eine Weile hiergeblieben. Gerade wollte ich Luft holen und mich verabschieden, als der alte Mann mit der Hand auf der Rinde zu sprechen anfing.

„Wir sind Kumpel seit ewigen Zeiten.“, sagte er und lächelte versonnen. „Meistens besuche ich ihn abends nach der Arbeit zum Sonnenuntergang.

Etwas aus der Fassung gebracht und vielleicht ein klein wenig entrüstet schaute ich ihn an: „Ich besuche ihn morgens zum Sonnenaufgang!“ Immerhin konnte ich mich noch etwas zusammenreißen und schaffte es, die Situation mit einem Lächeln zu bekämpfen: „Dann ist das doch gar nicht ihre Zeit!“ Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der Mann gerade eben eine Grenze überschritt.

Sein Gesicht wurde wieder ernst. „Stimmt. Doch gestern Abend habe ich hier wohl etwas verloren, das mir sehr am Herzen liegt und ich wollte schnell einmal schauen.“

Meine Hand fasste den Stein etwas fester. Er suchte den Stein! Ganz bestimmt! „Was suchen Sie denn? Kann ich vielleicht helfen?“ Man gut, dass ich in der Oberstufe den Schauspielkursus belegt hatte!

„Es ist ein blauer Stein mit kleinen goldenen Einschlüssen, glatt poliert. Es ist ein Heilstein. Den hatte ich immer bei mir.“

Überrascht schaute ich ihn an. „Ein Heilstein? Echte Magie und so?“

Mein Gegenüber lachte mich nun an: „Nein, das hat nichts mit Magie zu tun, auch wenn es mir manchmal so vorkommt. Der Stein hat bestimmte Mineralien in sich, die auf meinen Körper wirken. Für mich ist es wichtig, dass er beruhigt und bei allen möglichen Wehwehchen hilft.“

Mein Fundstück brannte förmlich in der Hand. Jetzt fühlte ich mich ein wenig schlecht. Ich könnte ja gleich einem Lahmen den Krückstock entreißen! Andererseits behauptete dieser Typ, er hätte irgendein Anrecht auf meinen Baum! Musste ich dann kooperativ sein? Wohl kaum! Demonstrativ ging ich zum Stamm. „Und sie kennen ihn schon lange? Wie lang ist denn die Ewigkeit?“ Irgendwie konnte ich nicht verhindern, dass meine Stimme ein wenig spitz klang.

Er lachte mich an und ging zur Rückseite des Baumes, die noch im dunklen Schatten lag. „Das war ich mit zehn.“ Langsam umrundete ich den Baum und sah ein Kreuz in der Rinde. Es war mir nie so richtig aufgefallen, da es beinahe gänzlich verwachsen schien. Mein Herz blieb fast stehen. Der Typ hatte meinem Baum wehgetan! Ich hatte mich nicht wirklich unter Kontrolle und japste ein wenig. Beruhigend tätschelte er die Baumrinde: „Nicht mein Alter, damals wusste ich noch nicht besser.“ Er schaute mich lächelnd an: „Heute tut es mir wirklich leid, doch rückgängig machen kann ich es nun auch nicht mehr.“

Wir gingen wieder in die Sonne zum Wühlloch der Wildschweine. „Tja, so kam das alles und jetzt suche ich meinen Stein.“ Er schaute mir in die Augen und ich bemerkte, dass dies Grau-blau in der Kombi mit den Lachfältchen immer noch ziemlich nett aussah.

„Du hast auch nichts Ähnliches gesehen?“

Jetzt war ich gefordert. Der Stein entflammte in meiner rechten Hand fast zu Feuer. Sein Blick betrachtete meinen Gesichtsausdruck und ich durfte nicht einmal mit den Augenlidern flackern, sonst würde ich mich verraten.

„Können Sie sich nicht einfach einen Neuen besorgen? Ich meine, es gibt doch diese besonderen Läden für Steine und Kristalle!“ Lächelnd untermauerte ich meine Aussage. Ich konnte den Stein nicht mehr zurückgeben. Erstens hatte dieser Mensch mir mein persönliches Verhältnis zu meinem Baum zerstört. Ich würde jeden Morgen daran denken, dass ER am Abend ebenfalls hier sitzen würde. Wie sollte ich da unbefangen träumen können? Außerdem, was würde er von mir denken, wenn ich ihm jetzt den Stein zeigen würde, wo er mich bereits schon mehrmals gefragt hatte? Ich stünde als Lügnerin da. Nun gut, das war ich auch, doch es musste nicht gleich offensichtlich sein.

Seufzend betrachtete er den Waldboden: „Natürlich könnte ich es. Doch man sagt, dass Heilsteine mit Energie aufladbar sind und ich glaube, er hatte mich schon viel zu viele Jahre begleitet. Der dunkelblaue Stein wirkt auf die Seele. Er gibt Ruhe und Kraft und er steht auch für Aufrichtigkeit.“

Das war ein unerlaubter Tiefschlag! Ich holte verhalten Luft. Konnte mir jetzt irgendwer sagen, wie ich aus dieser Situation wieder rauskommen sollte? Wie wär es mit einer gedanklichen Tür? Vielleicht könnte ich den Stein in einem unbeobachteten Moment einfach fallen lassen und dann finden? Huch, was haben wir denn da, oder so? Warum war es alles so, wie es jetzt war? Ich wollte eigentlich einen besinnlichen Start in den Tag, ganz allein für mich! Innerlich stockte etwas in mir: War ich wahnsinnig? Was mischte ich mich in ein anderes Leben, indem ich ihm etwas vorenthielt, was ihm eindeutig gehörte? Was würde ich an seiner Stelle von mir erwarten? Ich bin doch kein kleines Mädchen mehr! Ich konnte so sein, wie ich es mir von mir selbst wünschte. Den Mann würde ich nie wieder sehen.

Ich stellte mich gerade hin und schaute ihm in die Augen: „Bitte entschuldigen sie. Ich …“, warum war das so schwer? Ich meine ehrlich gerade heraus etwas klarstellen?

„Hier ist der Stein. Ich wollte ihn behalten, da sie mir meinen Baum genommen haben. Ich dachte, er gehöre mir ganz allein.“

Ich senkte meinen Kopf. Die Situation war mir peinlich, doch trotzdem fühlte ich mich gut. Die Welt war wieder geradegerückt.

Mein Gegenüber trat nah an mich heran. Sein Lächeln umrahmte seine Augen. Er hielt meine Hand, öffnete sie, betrachtete den Stein und nahm ihn. Ich konnte seine Freude spüren. Er strahlte fast aus sich heraus und ich fühlte mich noch schlechter, dass ich überhaupt daran gedacht hatte, den Stein zu behalten.

Er berührte kurz meinen Ellenbogen und zog mich wieder mit zum Baum.

„Bäume gehören niemanden, genauso wenig wie wir einem anderen gehören. Wir gehören uns selbst.“

Nachdenklich betrachtete er mein Gesicht und fügte hinzu:

„Wir können aber eine Weile aufeinander Acht geben und dies Gefühl der Verbundenheit genießen.“

Er lächelte und mit einem breiten Grinsen klopfte er mir auf die Schulter.

„Ich sehe dich jeden Morgen zum Baum gehen. Ich bin der alte Förster, der am Waldeingang lebt. Ich freue mich darüber, dass jemand meine Liebe zum Wald teilt.“

Mit winkender Hand drehte er sich um, hob die Äste der Büsche und wollte gerade verschwinden, als mir dann doch etwas auf der Zunge brannte:

„Entschuldigung, eine Frage hätte ich noch … wie konnten sie so sicher sein, dass sie den Stein genau hier verloren haben?“

Verschmitzt drehte er sich um, zwinkerte mit seinem rechten Auge und meinte:

„Weil ich ihn dort hingelegt hatte!“


Anm. z. Titel:

Der Wald ist eine Gemeinschaft. Gegenseitige Hilfe und Informationsweitergabe zwischen den Bäumen und Sträuchern ist eine Selbstverständlichkeit, um ein Überleben zu sichern. So einfach und schön kann Leben sein.

Anm. z. Text:

Jedes uns widerfahrende Ereignis und sei es noch so klein, birgt sein Geheimnis. Es ist da, wie die Sonne mit ihren geheimnisvollen Stürmen oder der Erdmittelpunkt mit seinen magischen Fähigkeiten. Es obliegt uns ganz allein, was wir damit machen. Wenn wir ein Ü-Ei geschenkt bekommen, dann gibt es darauf unterschiedliche Reaktionen: Die einen genießen die Schokolade und spielen unbeobachtet selbstvergessen auf ihrem Knie mit einem Spielzeug, das in seiner Einfachheit bezaubert. Andere verschenken es samt und sonders weiter und geben dem Kleinen keinerlei Beachtung. Wiederum andere werfen es als Tand in den Mülleimer, weil sie sich dem entwachsen fühlen. Selbst die eigentlich immerwährende Neugier vermochte dann nicht mehr darauf einen Hinweis zu verschenken, da sie schon lange durch den Alltag erstickt war. Wir haben die Wahl!

Warum manchmal merkwürdige Dinge geschehen, kann ich einfach nicht sagen, aber ich bin mir ganz sicher, dass sie dafür da sind, um etwas zu verändern. Uns!