The mind thing

Unzählige Bücher existierten darüber, Psychologen erforschten es täglich bei ihren Patienten und tausend Lehrer wunderten sich schon lang nicht mehr, sondern nahmen die Merkwürdigkeiten ihrer Schüler als aufgebürdetes Schicksal. Trotzdem hörten wir nicht auf, uns immer wieder darüber Gedanken zu machen: die Reaktion des anderen.

Wir wollten unbedingt das Handeln ergründen, erforschen und dies eigenwillige Wechselspiel der Zwischentöne oder des dann doch Unmissverständlichen verstehen. Denn mit Nähe fing Leben an, in einer gewollten Aufmerksamkeit zu einem anderen, der uns unser eigenes Sein überhaupt vor Augen hielt.

So stand ich auf der Matte und betrachtete die Bewegung meines Gegenübers. Es war dies Sehen, das im Grunde seiner eigentlichen Aufgabe nicht Herr wurde. Das bloße Betrachten ergab lediglich neue Fragen. Gerade deshalb ging unser schwedischer Trainer durch die Reihen, damit jeder Einzelne von uns ein Empfinden bekam, wie sich genau dies anfühlte, was ich im Moment nicht erfasste. Wie konnte ein subtiles Streichen über den Arm eine Reaktion hervorrufen, die in einem Kampf einen unglaublichen Vorteil schenkte? Mit dieser kleinen Bewegung meiner Hand geriet mein Angreifer aus dem Lot und fiel zu Boden.

Jorma erklärte uns das Prinzip: Wenn mir die Schwertspitze meines Angreifers vors Gesicht gehalten wurde, dann neigte sich mein Oberkörper sofort nach hinten. Sobald ein Messer von der Seite kam, sprang meine Achse förmlich aus der Form oder wenn der Handkantenschlag herunter sauste, dann verließ ich die Linie, damit dieser nicht meiner habhaft werden konnte. Es war dies blitzschnelle Reagieren auf etwas Gefährliches. Es brauchte kein Überlegen oder eines antrainierte Bewegens, um den Körper sofort reagieren zu lassen. Dies phänomenale Erkennen oder Erfühlen einer Gefahr schien in unseren Zellen eingraviert zu sein.

Was geschah aber, wenn unser Gegenüber sich außerhalb dieser Kategorie bewegte? Wenn nicht die knallharten Fakten einer Gefahr uns aus der Komfortzone brachten? Wenn es etwas war, was wir normalerweise unter gänzlich anderen Vorzeichen kannten und es deshalb unterhalb unseres Radars lief? In einem Kampf bekamen üblicherweise nur die lauten, augenscheinlichen Dinge unsere Aufmerksamkeit.

Nun schlich sich etwas Kleines ein, das ebenso unseren Fokus lenkte. Doch zeigte sich nicht Gefahr im Blickfeld, sondern lediglich etwas, das ganz neutral meine Aufmerksamkeit verlangte. Vielleicht war es eine Art von Neugier, die uns trieb, mal eben nachzuschauen. Vielleicht war es ein Perspektivwechsel oder auch ein Schutzmechanismus. Niemand wollte von einem Schlag überrascht werden und folgte dadurch dem Tun des anderen.

Schloss ich meine Augen während mein Gegenüber diese Bewegung an meinem Arm ausführte, dann erschien der Effekt überdeutlich in meinem Empfinden. Bei einem Kontakt orientierte sich meine Wahrnehmung an etwas, was ich nicht benennen konnte. Gleich in einem Magnet-Feld liefen unzählige Feldlinien in eine Richtung und gaben dadurch meinem Körper die Information zur Bewegung. Alles in uns fühlte sich bei einer äußeren Berührung angesprochen.

So waren wir eine kompakte Einheit: Körper und Geist. Als stünden zwei Menschen Rücken an Rücken und versuchten damit den gesamten Überblick des Feldes zu erhaschen. Wenn unser Geist eine Information erhielt, dann erhielt sie zeitgleich der Körper und vice versa. Warum wir manchmal so oder so reagierten, konnten wir nicht immer sagen. Genauso wenig konnten wir manchmal verstehen, warum auch das Kleine solch großen Auswirkungen besitzen konnte, vor allem in einem Kampf. Vielleicht lag es daran, dass Dinge immer ihre zwei Seiten besaßen.

Ein anderer Mensch konnte im Kampf oder im Leben Gefahr oder ein Geschenk sein und manchmal war beides gemeinsam die richtige Antwort …


Trainer: Jorma Lyly, 6. Dan Aikikai

Trainingsort: https://aikidozentrum.com/