Ein seitlicher Schlag mit der Handkante konnte schmerzen; er konnte die Achse gefährlich beeinflussen oder sogar das Bewusstsein für einige Sekunden auslöschen. Keine Frage, das wollte jeder kontrollieren.
So erhob sich die Hand meines Gegenübers und fast zeitgleich drehte ich mich in den kommenden Schlag. Der ganze Körper fokussierte sich. Da gab es kein Herumblicken, kein Zerfransen in der Aufmerksamkeit und auch kein Wahrnehmen der äußeren Umstände, schließlich galt es dem Kommenden mit jeder Faser entgegen zu wirken.
Trotzdem schien sich bei mir noch nicht diese Intensität meiner Lehrerin ergeben zu wollen. Um sich etwas aneignen zu können, musste erst einmal erkannt sein, was es denn nun war, was gelernt werden wollte. Ich sah lediglich die Tatsache eines wolkigen „da-ist-etwas-anders“. Das hatte wohlgemerkt nichts mit dem inneren Kritiker zu tun, mit dem ich in der letzten Zeit meine Schlachten schlug. Hier hakte sich eine simple Feststellung in mein Bewusstsein.
Diffuses Erfassen erschien mir noch nie ein Grund zu sein, um es nicht zu beachten. Wir Menschen empfanden Dinge nicht umsonst. Unsere Gefühle signalisierten etwas, das Neuland wie weiche Wolken umfing. Wir konnten uns dann glücklich schätzen, wenn ein Lehrer dies Erkennen und Annehmen in eine präzisere Bahn führte.
Für die Erklärung nahm Julia das Schwert in die Hand, wies aber auch sogleich darauf hin, dass es für die Handhabung der Techniken verschiedene Theorien gäbe, um sich in den Flow der Energien wiederzufinden. Es gab deshalb kein Richtig oder Falsch für bestimmte Sichtweisen. Selbstverständlich. Ich für mich selbst wusste aber sofort, dass ich mich mit meiner Affinität zu den Aikido-Waffen nicht auf einem variablen, sondern auf einem passenden Weg befand.
Sehr langsam und minutiös demonstrierte unsere Trainerin die Reaktion auf den Handkantenschlag. Fast zeitgleich sollte reagiert werden. Sie führte den Bokken in eine runde, ausholende Spirale. Zuerst zog sie das Schwert über die linke Seite am Kopf, um schließlich mit einem schrägen herunterführenden Schlag genau an der richtigen Stelle des entgegenkommenden Armes zu landen. Das konnte aber nur geschehen, wenn zudem auch die Schrittfolge zeitgleich sich mit dem passenden Schwerpunkt in eine Spirale bewegte.
Die Hände begangen mit dem Schwert eine Schlaufe, die mit den Füßen ihre Vollendung fand. Im Grunde entsprach die gesamte Bewegung einer schleifenförmig geometrischen Kurve; einer liegenden Acht, einer Lemniskate. Jedenfalls fühlte es sich für mich so an.
Geometrische Formen waren pure Mathematik. In Altgriechisch hieß es μαθηματική τέχνη mathēmatikē téchnē und wurde mit „die Kunst des Lernens oder „zum Lernen gehörig“ übersetzt.
Legte ich das Schwert beiseite, so konnte ich diese Lemniskate mit meinem Körper ebenso nachzeichnen. Ich befand mich also mithilfe der Mathematik wie auf einem Flugfeld mit Einweiser, sozusagen auf einer Brücke, die mir durch die Waffe gezeigt wurde. Nun brauchte ich nur noch unzählige Jahre, um diese Form zu füllen. Aber das machte nichts, die Richtung fühlte sich gut an.
Das Handhaben des Schwertes war eine alte Kunst, Mathematik war eine alte Kunst und beides vermengt durchwob Aikido, um schließlich gemeinsam in den Energien einen Ausdruck zu finden.
Alles war miteinander verbunden und mittenmang waren wir!
Trainerin: Julia Wagner, 4. Dan
Trainingsort: https://aikidozentrum.com/
Anm. z. Text: Ich weiß, dass ich bei meinen Texten vieles unters Mikroskop lege. Aikido ist voll und ganz eine Bewegung mit den Energien, die sich im Leben wiederfinden. Im Grunde ist die Kampfkunst einer der seitlichen Zuwegungen, um das Leben an sich zu betrachten. Da wir uns alle inmitten dessen befinden, ist jede Stichstraße, jede Verbindung zwischen all den wunderbaren Dingen, die wir bereits kennen und wissen eine unglaubliche Bereicherung, jedenfalls für mich. Ob dem überhaupt so ist, ob ich überhaupt irgendetwas erfasse, was ist oder nicht, kann ich nicht sagen.
Doch für mich ist es meine Wirklichkeit, die ich mit all jenen teilen möchte, die sich die Mühe machen, meine Texte zu lesen. Danke an Euch!
danke, fürs Erzählen…und dass Du mir das Altgriechische übersetzt hast…;-)……
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Lieber Wolfgang, ich kann auch kein Altgriechisch 😀 , die Übersetzung hat die Welt für mich gemacht! Danke Dir für Deine Worte! Ich freue mich! Viele Grüße, Christine
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