Sturm im System

Meine Fußsohlen bemerkten das Weiche der Matte, meine Handgelenke den Griff meines Trainingspartners und die Sekunden verstrichen fast hörbar. Nichts tat sich. Mein Körper bekam anscheinend keine innerliche Aufforderung. Tief einatmen, tief ausatmen …

Zeit war relativ. Was für mich Ewigkeiten zu dauern schien, konnte für einen anderen nur einen Augenblick bedeuten. Was sollte ich noch mal tun? Wenn die Wüste im Kopf sich ausbreitete, dann öffneten sich Schubladen mit Fragen: Welcher Angriff? Omote oder Ura? Basis oder fließend? Genug Raum für Hand und Fuß? Führt mein Blick den Körper? Wie positioniert sich der Angreifer? Geht er mit? Wohin führt sein Impuls? Greifen meine Hände richtig? Bin ich aufrecht mit sicherem Stand? Wo liegt mein Schwerpunkt? Habe ich überhaupt noch Kontakt? … Spätestens nach der dritten Frage über den Sachstand, bemerkte ich, was ich da eigentlich tat: Ich schürte Chaos.

Die Merkwürdigkeiten begannen nicht in der Welt, sondern bei einem selbst. In dem Moment, wenn eine Aufgabe ihre Anwesenheit bekundete, umkreisten wir sie. Zuerst betrachteten wir sie ganz neutral, als schauten wir auf einen Stein, der im Weg lag. Es war dann ein inneres Bemerken, wie „ach, du bist da“. Mit einem Herumschlendern ließ sich vielleicht noch das Äußere wahrnehmen, Form und Farbe registrieren und alles innerlich einem Sachgebiet zuordnen.

Da Aufgaben aber ihren Bezug zu einem selbst besaßen, ergriffen sie uns in dieser unbedachten Betrachtung mit beiden Händen. Sie zogen uns ganz nah heran, damit sie ihren starren Blick auf unser Sein ruhen lassen konnten. Da hingen wir dann, zusammengewurschtelt. Egal, wohin der Blick fiel, die Aufgabe stand plötzlich überall herum.

In zwei Wochen war Prüfung …!

In den ersten Vorbereitungswochen ging ich davon aus, dass das Problem darin versteckt sein könnte, das eigene Können oder aber auch Nicht-Können offen darlegen zu müssen. Ganz bestimmt war es am Anfang ein Punkt, doch der löste sich schnell auf. Die Gruppe zeigte mir unmissverständlich, dass es da nichts zu bedenken gab, schließlich kannte jeder das Problem.

Die Techniken im Stehen beinhalteten auf meiner Stufe 54 Ausführungen. Bei einer Tasse Tee könnte ich sie ausführlich erklären. Diese Tatsache reichte aber noch nicht. Jedenfalls sagte mir dies der gerade entstandene verharrende Moment des Nicht-Bewegen-Könnens. In meinem Kopf herrschte das bunte Durcheinander. Wahrscheinlich entsprach ich gerade einem Computersystem, das mit unzähligen Mails bombardiert wurde und dann dadurch zu keiner Handlung mehr fähig war.

Kōichi Tōhei, ein Schüler des Morihei Ueshiba[1], schrieb[2], dass die Einheit von Geist und Körper die Grundlage der Kampfkunst bildeten. Denn im Kampf führte der Aikidoka zuerst den Geist seines Gegenübers und warf dann den Körper, dem der Widerstand dadurch nicht mehr möglich war. Das war schwer zu verstehen. Jedenfalls für mich.

Aufgrund meiner noch wenigen Erfahrung kann ich nur mutmaßen, was er meinte: Innerhalb der unglaublich schnellen Bewegung der Technik, suggeriert der Aikidoka dem Angreifer ein „sicheres Terrain“ gleich einem Schemel, auf den er sich setzen könnte. Doch diese Sicherheit entpuppt sich als Hohlraum, als fehlte dem kleinen Hocker plötzlich das dritte Bein. So zeigt der Aikidoka dem Geist seines Angreifers einen Weg, dem der Körper willig folgt und damit zu Boden fällt. Kōichi Tōhei erklärte aber auch weiter, dass dies Führen des Geistes eines anderen nur möglich war, wenn man den eigenen unter Kontrolle hatte!

Still saß ich nun auf der Matte und mein Tun zeigte sich mit diesem Gedanken in einem anderen Licht. Die Aufgabe lag nicht darin, die unglaublich vielen Aspekte einer Technik in jeglicher Ausführung während einer Prüfung zu berücksichtigen und perfekt zu formen. Die eigentliche Aufgabe einer Prüfung lag darin, sich darin zu üben, den eigenen Geist unter Kontrolle zu halten und ihn mit dem Körper gemeinsam in die Bewegung zu führen!

Erst wenn ich diese Brücke nahm, konnte ich mit dem beginnen, was ich wirklich tun möchte:

Aikido!


Trainer: Matthias Lange, 5. Dan

Trainingsort: https://aikidozentrum.com/


[1] Gründer des Aikidos

[2] Kōichi Tōhei, Das Ki-Buch, Der Weg der Einheit von Geist und Körper, Heidelberg, 1978, S. 61.