Konventionen und andere Abgründe

Das konnte jetzt nicht sein Ernst sein! Ohne eine Miene zu verziehen, nickte ich kurz und zog ein klein wenig meine linke Augenbraue hoch. Ich wusste warum, er glaubte an Anerkennung.

Er: „… um sich entspannen zu können, muss das Hotel ja auch etwas bieten! Es kommt mir überhaupt nicht auf das Geld an, aber dann muss schließlich auch alles funktionieren. Da kommen diese kleinen Zimmermäuse daher und wollen mir erzählen, was ich mit meinen Handtüchern zu tun habe. Normalerweise hinterlasse ich ja jeden Tag ein klein wenig Kleingeld, aber Vorschriften muss man mir als Gast des Hauses nun wirklich nicht machen!“

Jetzt beeilte ich mich eben noch so sehr, um weitere zehn Minuten für mein Frühstück herauszuschlagen. Doch die Welt war gegen mich. Kein einziger freier Tisch fand sich weit und breit im Frühstücksraum. Also setzte ich mich zu einem Mann mittleren Alters, der hoffentlich bald sein Rührei beendet haben würde. Ich freute mich auf meinen ersten Kaffee und Ruhe. Das Erste war machbar, das Zweite anscheinend nicht.

Er: „Ich bin ein erfahrener Reisender, der schon in vielen guten Hotels übernachtete und dann so etwas! Ich bin Gast und das spricht doch für sich selbst!“

Ich schimpfte mit mir, dass ich nicht zehn Minuten früher aus den Federn kam, vielleicht hätte ich noch einen Tisch für mich allein bekommen. Demonstrativ nahm ich mein Buch von der Tischkante. Ein Signal für jeden normalen Menschen. Für meinen Tischnachbarn wohl nicht. Er nahm mir das Buch aus der Hand, las den Titel, schaute mich an und zog nun seinerseits eine Augenbraue hoch. Langsam kroch etwas meinen Hals entlang. Mein Aggregatzustand wechselte von einem anfänglichen „Neutral“ zu einem mehr oder weniger „Angestrengten“.

Mit einem knappen Lächeln entzog ich diesem Sympathiebolzen mein Buch, verwies mit meinen Augen auf sein Rührei und schlug die richtige Seite auf, um weiterzulesen. So manch einer könnte dies als Hinweis interpretieren.

Das Buch gefiel mir, doch ich konnte mich nicht konzentrieren. Mein Gegenüber starrte mich an. Eine Weile ignorierte ich diese Tatsache, doch es ließ sich nur schwer aus der Kaffeetasse trinken, ohne dann seinem Blick zu begegnen. Dem guten Mann passte etwas nicht. Sein Unmut schwappte gerade über den Tischrand.

Er: „Sie mögen nicht so gern reden, oder?“

Irritiert schaute ich auf. Das eine oder andere lag mir auf der Zunge. Doch so etwas gehörte sich nicht, auch wenn das Innerste am liebsten das nächstbeste Schwert ziehen wollte. Höflichkeit durfte lügen. Glaube ich jedenfalls. Unsere Vorfahren verhinderten so manchen Krieg damit …

Ich: „Doch, aber ich bin noch etwas müde und hatte wohl noch nicht genug Kaffee …“ und lächelte.

Verständnisvoll nickte der Vielredner. Eigentlich war er ein netter Mensch mit nur ein klein wenig Standesdünkeln. Vielleicht musste er sich einfach zum Hotelpersonal abgrenzen, um sich selbst aufzuwerten, weil es sonst nicht so viel aufzuwerten gab. Im Grunde ein psychologischer Sozialfall und damit eine schützenswerte Person!

Waren solche Überlegungen nicht völlig widersinnig? Warum gab es kein simples Miteinander, sondern immer verbunden mit so vielen Haken, an denen etwas ungut hängen bleiben konnte? Ok, Regeln ordneten ein Zusammenleben. Warum das so war, erklärte sich selbst. Worüber machte ich mir also überhaupt Gedanken? Diesen Menschen würde ich niemals wieder sehen! Sagte ich ihm aber deshalb, dass er mich störte und er bitteschön sein Rührei essen durfte, aber ansonsten einfach still sein sollte?

Andererseits war ich davon überzeugt, dass jedes „zufällige“ Zusammentreffen dafür da war, Informationen auszutauschen. Entweder hatte ich eine für den anderen oder dieser eine für mich. Wenn ich dies wirklich dachte, warum verhielt ich mich nicht danach? Warum schreckte mich so sehr der Eindruck, den er gerade schuf? Warum sah ich nur mich selbst und nicht das große Ganze? Also, meine Liebe, nimm nochmals Anlauf und bieg das Miteinander ein wenig gerade …

Ich: „Was hat denn das Zimmermädchen zu ihnen gesagt, was sie so aufregte?“ Demonstrativ schloss ich mein Buch, um meinem Gegenüber zu zeigen, dass ich ganz mit ihm war.

Aufgrund meines nun plötzlich entgegenkommenden Verhaltens schaute er mich eine Sekunde überrascht an, lächelte und goss sich einen weiteren Kaffee ein.

Er: „Sie war tatsächlich der Meinung, sie müsse mich auf das kleine Schild im Bad hinweisen.“

Ich: „Sie meinen, das auf die Handhabung der Handtücher? Also Austausch nur, wenn es auf dem Boden liegt?“

Nickend schlürfte mein Gesprächspartner an seinen zu heißen Kaffee. Irgendwie hatte ich wirklich noch nicht die Problematik erkannt und schaute ihn deshalb fragend an.

Ich: „Na ja, es ist doch eine sinnvolle Handhabung! Ressourcen werden gespart. Umwelt geschont. Das ist ein großes Hotel, was meinen sie, was allein täglich an schmutzigen Handtüchern zusammenkommt!“

Er: „Dafür bezahle ich doch! Es ist ganz allein meine Angelegenheit, was ich mit meinen Handtüchern mache!“

Verblüfft schaute ich ihn an. Mein „angestrengter“ Aggregatzustand wechselte nun zu einem leicht ärgerlichen; meine natürliche Zurückhaltung musste sich leider in die Ecke stellen.

Ich: „Ich möchte ihnen ja nicht zu nahe treten, aber es geht doch darum, sich auch mit kleinen Dingen dem Umweltproblem zu stellen, damit etwas für die Zukunft geändert werden kann! „Erde“ ist ein begrenzter Rohstoff! Die Idee mit den Handtüchern ist etwas Sinnvolles!“

Mein Gegenüber lehnte sich leicht zu mir herüber, sodass ich seine Halsschlagader sehen konnte. Der Puls schien sich ein wenig in höheren Regionen zu bewegen.

Er: „Das mag sein … aber ein Zimmermädchen hat mich nicht zu korrigieren!“

Ich: „Äh …“. Ich verschluckte mich an meinem Kaffee.

Das sagte er nicht wirklich, oder? Ein Stühlerücken am Nebentisch lenkte mich kurz ab. Der Tisch wurde frei! Ich hatte mir mein Frühstück gänzlich anders vorgestellt. Der aufkommende Ärger in meinem Inneren richtete sich einerseits gegen diesen unmöglichen Mann, aber auch gegen mich selbst! Am liebsten wäre ich sogleich aufgesprungen, um mir den freien Tisch zu sichern. War aber eindeutig nicht in der Lage dazu. Meine eigenen Vorstellungen von Höflichkeit banden mich.

Was stellte ich mich überhaupt so an? Die Verhaltensregeln haben sich irgendwelche Leute vor langer Zeit ausgedacht und das Ganze wurde dann im vollen Umfang in meine Erziehung eingewoben. Wer konnte später noch den großen Unterschied finden, was ich wirklich empfand oder was mir sozusagen als fremde Maßregel ins System eingeschleust wurde! Wenn ich mich jetzt allein an den Nebentisch setzte, schlachte ich doch keine heilige Kuh! Konventionen besitzen auch keinen moralischen Wert, der mich von meinem Handeln zurückhielt!

Gerade als ich Luft holte, um meinen „Umzug“ an den Nebentisch zu begründen, legte sich seine Hand auf meinen Arm, um mir mit einem ernsten Gesichtsausdruck in die Augen zu blicken:

„Wissen sie was? Ich setze mich an den Nebentisch. Dann können sie ganz in Ruhe lesen und fühlen sich nicht von mir belästigt.“

Gesagt und getan, wobei er sich dann so an den Nebentisch setzte, dass er mir den Rücken zuwandte.

Verblüfft starrte ich sein hellblau-kariertes Oberhemd an. Jetzt war ich die Schuldige! Ich hatte überhaupt nichts Verwerfliches gesagt oder getan! Er war doch derjenige, der hier Standesdünkel zur Schau trug und sich in der Rolle auch noch bombensicher bewegte, als wäre es völlig in Ordnung!

Eigentlich könnte ich jetzt ganz zufrieden an meinem Buch weiterlesen. Konnte es aber nicht, weil ich mich wegen nichts schuldig fühlte. In Ruhe mein Frühstück zu genießen, das war ganz bestimmt nicht zu viel verlangt! Muffig mit mir und der Welt blickte ich auf mein nun wieder aufgeschlagenes Buch:

„Im Zen gibt es die Formel der <einmaligen Gelegenheit im Leben>. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, dass die Begegnung, die man jetzt gerade hat, etwas Wertvolles ist, das so nicht wiederkehrt. Deshalb begegnet man ihr mit Wertschätzung.“

Etwas zu laut ließ ich mein Buch zusammen klappen, klemmte es mir unter den Arm, nahm meinen Teller, Besteck und Kaffeetasse, rückte meinen Stuhl zurück und setzte mich gegenüber einem ziemlich erstaunt blickenden Tischnachbarn.

Ich lächelte ihn an, nahm von der vollen Kaffeekanne Nachschub für ihn und mich, rührte etwas Milch in meine Tasse und begann neu:

„Bevor ich heute Abend nicht einschlafen kann, weil ich nicht verstehe, worin das Problem mit dem Zimmermädchen lag, wäre es nett, wenn sie es mir nochmals erklären könnten. Ich glaube, ich habe es eben nicht richtig verstanden.“

Ein klein wenig freute ich mich über die zwei Sekunden Fassungslosigkeit meines Gegenübers, aber dann schaute er mir kurz prüfend in die Augen und begann seine Geschichte nochmals von vorn.

Was sollte ich sagen? Ich stellte fest, dass er tatsächlich Standesdünkel besaß, ich stellte aber auch fest, dass ich aufgrund seiner weiteren Erzählungen verstehen konnte, woher diese kamen. Außerdem stellte ich fest, dass er im Grunde ein ganz sympathischer Mann war, mit dem sich ein Gespräch allemal lohnte. In den folgenden Tagen trafen wir uns immer wieder im Frühstücksraum und teilten ganz freiwillig einen Tisch, obwohl genug Platz für gesuchte Ruhe vorhanden war.


Anm. z. Text: Ich las in dem Buch „Zen your life“, Kleine Veränderungen mit großer Wirkung, von Shunmyo Masuno, Frankfurt am Main, 2019, S. 153.

In meinen Grundschultagen besaß ich noch eine kleine flache Blechdose mit dünnen bunten Scheibchen. Die Mengenlehre war damals der große Renner und ich war von den Kreisen, Vierecken und Dreiecken in grün, blau, rot und gelb richtig begeistert. Wenn ich sie gegen die Sonne hielt, konnte ich hindurchschauen und wenn ich sie übereinanderlegte, ergaben sich neue Farben.

Wenn Menschen zusammenkommen, dann gibt es immer an irgendeiner Ecke einen gemeinsamen Nenner. Wenn wir uns die Zeit ließen, diesen herauszufinden, dann entsteht etwas Neues, wie in der Mengenlehre. Die gemeinsame Schnittmenge kennzeichnet eine Verbindungsstelle und somit die Öffnung zu einem Netz. Wir verknüpfen uns auf diese Weise mit etwas Großen, das unsere Wahrnehmung verändert. Ziemlich cool!