Ein halber Ball rollt sich schlecht

Je genauer ich hinschaute, umso mehr schien ich berücksichtigen zu müssen und umso mehr fächerte sich das bereits Kleine in viele Winzigkeiten. Das konnte doch nicht sein! Eine Technik war eine Technik, wie eine Rose eine Rose war. Ein festes Außen und ein festes Innen. Sie ließ sich ausführen, erfühlen, erleben und als ein Spielfeld zweier Menschen ansehen. Solange ich sie aber nicht begriff, musste ich mich Stück für Stück einem Gesamteindruck nähern, den ich zuerst nur in einem Zusehen erfassen konnte.

So kommt dann dies Eigenwillige der Wahrnehmung ins Spiel. Ein Wort, so bunt wie sein Inhalt und sein Auslöser … Was sehe ich denn, wenn ich meiner Lehrerin bei der Vorführung zuschaue? Achte ich auf die Füße, dann sehe ich die Hände nicht, achte ich auf die Körperdrehung, sehe ich das Lot nicht, achte ich auf den Angreifer, bleibt das Handeln des Verteidigers ungesehen. Nun gut, um genau diesen Sachverhalt gerecht zu werden, gab es die diversen Wiederholungen. Mittlerweile war mir immerhin klar, dass dies Äußere wirklich nur peu à peu entwickelt werden konnte, gleich einer Kette, deren Glieder ich aneinander reihte.

Dann kam der Moment, wo ich glaubte, das Prinzip erfasst zu haben und überließ mich selbst dem eigenen Schwung und dem Impuls, der mich einfing. Nun müsste dem Fallenlassen innerhalb der Form jeglicher Raum gegeben sein. Eigentlich. Überraschend zeigen sich aber Unstimmigkeiten, Haken, ein Pausieren an falschen Stellen, ein Mini-Überlegen-Müssen und unrundes Ausführen, obwohl doch alles so klar erschien.

Als ich auf der Matte saß und darüber nachdachte, worin denn nun das Problem liegen könnte, da schlich sich die Überlegung ein, dass ich einfach nur genug Wiederholungen bräuchte, um das Unrunde irgendwann nicht mehr festzustellen. Natürlich würde ich geschmeidiger die Bewegung ausführen können, doch würde ich auch dadurch die ursprünglichen Ecken ausgemerzt haben? War dem so? Würde ich dadurch das Problem wirklich erfassen? Ginge ich nicht eher wie mit einem Pinsel darüber, um es selbst nicht sehen zu müssen?

Beim Laufen lernen klappte es, beim Sprachen lernen klappte es, beim Kochen lernen nicht und beim Orientieren auch nicht und nun stand ich vor der Frage, inwieweit ich überhaupt diesem Weg zutrauen mochte, ein für mich vernünftiges Ergebnis präsentieren zu können.

So probierte ich es aus. Unrunde Stellen veränderten sich mit den unzähligen Wiederholungen, aber sie lösten sich nicht auf. Ich könnte diese Tatsache ignorieren und schließlich darauf vertrauen, dass irgendwann sich alles fügte. Kam ich damit wirklich dorthin, wohin ich wollte?

Wenn ich mich in ein Kettenkarussell setze, dann möchte ich das wunderbare Gefühl des Schwebens genießen. Bemerke ich aber mittendrin, dass ich mich nicht richtig hingesetzt habe und meine Jacke an tausend Stellen durch mein Eigengewicht innerhalb der Bewegung drückt, dann kann ich im Herumwirbeln nicht wirklich schwelgen, weil meine Gedanken sich ständig an den ungemütlichen Stellen beim Sitzen aufhalten. Nach der Fahrt verwünsche mich selbst, weil ich mir durch falsche Vorbereitung den halben Spaß nahm. „Halb“ ist gar nichts, „halb“ ist die trockene Wüste mit einem Versprechen durch eine Fata Morgana! Das Flimmern gaukelt Schönes vor, um schließlich den Suchenden nur mit leeren Händen zu Boden sinken zu lassen.

Ich wollte kein „Halb“! Ich wollte ein „Ganz“! Also, musste ich einen Schritt in der Ausführung der Technik zurückgehen, um das zu finden, was mein Tun nur zu einem Halben machte.

Mir gefiel das Bild des Herumwirbelns und in meinen Gedanken sah ich mich wunderbar im Moment versinken.

So fühlt sich Aikido an!


Trainerin: Julia Wagner, 4. Dan

Trainingsort: https://aikidozentrum.com/

Anm. z. Text: Als Julia über diese Problematik im Unterricht sprach, erzählte sie, dass einer ihrer Lehrer es so formulierte:

If you have a problem, don’t avoid it, solve it!

Die Basis einer Technik mag vielleicht der Anfang des Lernens sein, sie bietet aber auch den Boden für das Kommende. Wenn ich nicht genau sehe, was ich wirklich tue, dann kann ich es noch so oft üben, der Untergrund bietet dann keinen Halt.