Der Goldene Schnitt im Tun

Ausgestreckt lag ich auf den weichen Matten und hätte bis in alle Ewigkeiten hierbleiben können. Mit jedem Atemzug versank mein Körper ein Stückchen mehr in dem Weichen des Untergrundes. Ich schloss meine Augen, um den Moment zu genießen. Zweieinhalb Stunden Training machten sich doch bemerkbar. In den letzten Minuten brachten wir das Aufgewirbelte durch leichte Dehnung zur Ruhe. Für mich war es ein Folgen des Windhauchs, der durch die geöffneten Fenster seine Anwesenheit bekundete und mich erinnerte.

Er erinnerte mich, ein Teil zu sein. Ein Teil des großen Ganzen, wie jeder andere hier auf der Matte, auf der Straße, in der Stadt, im Land, auf dem Kontinent, auf der Erde. Völlig intensiv und präsent merkte ich meinen Körper. Mit ihm konnte ich all dies erfahren und genießen; ohne ihn wäre es ein Schatten einer Erzählung mit einer getrockneten Blume zwischen den Seiten eines alten Buches.

Ich streckte mich. Von meinen Fingerspitzen bis zu meinen Zehen gab es ein Maß, das sich unzählige Male in meinem Körper wiederholte, sei es in den Händen mit meinen fünf Fingern oder in meinem Gesicht oder in meinem Inneren. Unser Körper spiegelte hier etwas sehr Besonderes wider, das sich ebenso in der Natur oder in der Galaxie als Grundlage des Seins manifestierte.

Mit geschlossenen Augen auf der Matte liegend, empfand ich diese Tatsache magisch und es konnte nur eine von den vielen Gründen sein, warum die Dinge so waren, wie sie waren und sich im Empfinden beim Aikido wiederfanden.

Ich dachte an die vielen Bewegungen der letzten Stunden, an das Ausprobieren und Lernen. Schließlich an das wunderbare Gefühl, wenn das Innerste wusste, dass etwas genau richtig war. Die eigene Bewegung schien sich in die Erdanziehungskraft, den Fliehkräften, aber auch den entgegengebrachten Impulsen einzufügen. Ohne den Ursprung wirklich zu kennen, konnten wir gefühlte Harmonie sichtbar werden lassen.

Das eigene Tun auf der Matte passte wie ein handgeschnitztes Puzzlestück in das Gesamtbild.


Anm. z. Text:

Wenn eine Strecke nicht mittig geteilt wird, sondern so, dass ein kurzes und ein langes Stück entsteht, dann ergeben sich drei Strecken: die Länge des Gesamten und die beiden ungleichen Teilungen. Sie können so abgestimmt werden, dass ein weiterführendes Muster entsteht. Verglichen mit der kurzen Strecke, ist die längere größer, aber im Verhältnis zur Gesamtlänge kleiner. Wenn noch die kurze Strecke, das gleiche Verhältnis besitzt, wie die lange Strecke zur Gesamtlänge, dann entsteht eine Proportion, die beliebig nach außen oder nach innen fortgesetzt werden kann. Das lässt sich z. B. gut an den gedrehten Muscheln sehen. Ein harmonisches Maß hat sich dann gefunden.

Bei einem Ursprungsmaß von einem Meter liegt der Goldene Schnitt bei 61.8 cm. Im menschlichen Körper bildete der Nabel oberhalb der Körpermitte dieses Maß ab oder es zeigt sich von einem freischwingenden Arm aus gemessen bis zum längsten Finger. Es entspricht ebenso dem Verhältnis innerhalb einer Blüte oder den Bewegungsbahnen zwischen Venus und Erde. (aus: „Die Blume des Lebens in dir“ von Andreas Beutel, Dorfen, 6. Aufl. 2018, S. 83)

Wir selbst scheinen durchzogen von einem messbaren Gleichgewicht. Es befindet sich nicht nur in uns, sondern ebenso in unserer nächsten wie auch fernsten Umgebung. Muss es immer augenscheinlich messbar sein, also mit Lineal oder Zollstock? Wenn es ein Naturgesetz war und so erschien es mir, warum sollten nicht auch die nicht stofflichen Dinge diesem unterliegen? Vielleicht ergaben die Erdanziehungskraft, die Fliehkräfte und der eingebrachte Impuls ebenso einen harmonischen Zustand, der dem zugrunde lag, sodass wir diesem im Aikido folgen konnten? Es gab so viele Dinge, die für mich noch unentdeckt wirkten. Harmonie war ein im Körper zum Ausdruck gebrachtes Wort, das der Empfindung unterlag

Eines wusste ich ganz bestimmt, sie fühlt sich wunderschön an.