Reise ins unbekannte Ich

Da greift eine Hand aus dem Nichts meinen Nacken und zieht mich aus einer Gedankengasse; vorsichtig, fast wie bei einem kleinen Kätzchen, das dann nur noch mauzen kann, ohne zu wissen wie ihm geschieht. Dieser unverrückbare Glaube, die Dinge der Welt und auch sich selbst als absolut glasklar zu sehen, schien ein sich anpassender Zaubermantel zu sein. Nur besaß er die Eigenschaften einer Fata Morgana, nicht der Realität. Vielleicht schützte er auch, damit das Innerste nicht vom Außen überrannt wurde …

So stand ich im Licht der Abendsonne auf der Uferpromenade und wartete. Der Himmelskörper zeigte anscheinend nur für mich das volle Rot-Orange-Spektrum, sodass ich bewegungslos in der Betrachtung verharrte. Mein Warten war ein Spiel mit der Welt. Wer bewegte sich zuerst? Sie oder ich?

Aha, die Welt! Mit einem fröhlichen Lächeln kam mir ein Pärchen entgegen, dass ich in den letzten Tagen kennenlernte und rief mir ein „bis gleich!“ zu. Ich erwiderte ihr Lächeln und das „bis gleich“, blieb aber trotzdem stehen.

Mein Bewegungsapparat ignorierte mittlerweile die zarten Aufforderungen irgendetwas zu tun; er war zum starren Panzer mutiert, jedenfalls zu dieser Tageszeit. Eine Woche mit jeweils sechs Stunden Training pro Tag gingen langsam ihrem Ende entgegen; in der freien Zeit konnte ich nur noch essen, schlafen, minimalistisch lesen und gar nicht schreiben oder einfach das Gesicht in die Sonne halten.

Heute am letzten Abend vor der Abreise stand ein Lagerfeuer am Strand auf dem Programm. Wenn der Tag mit vielen verbracht wurde, dann war ich oft für etwas Ruhe dankbar. Andererseits hatte sich der Veranstalter bemüht, organisierte und bedankte sich auf seine Art und Weise für eine gelungene Woche. So erschien es mir nicht richtig, nicht daran teilzunehmen, selbst wenn die Müdigkeit auf meinen Schultern lag.

So stand ich also hier oben und sah bereits das Gewusel am Rande des Wassers. Ich wusste nicht, was ich wollte. Tief atmete ich die Abendluft ein. Der eigene Atem legte sich in solchen Momenten wie eine warme Hand aufs Zwerchfell und wischte Gedanken mit seiner Bewegung einfach weg. Je tiefer ich atmete, umso mehr versank mein Blick in der Betrachtung. Es glich einem Zurücklehnen in große weiche Kissen, einem Überall-Sein zur gleichen Zeit.

Ich konnte aber nicht ewig hier stehen, die Sonne versank bereits zur Hälfte hinter dem Horizont. Seufzend schloss ich meine Jacke, da meine müden Muskeln Wärme gebrauchen konnten.

Gerade als ich mich umwenden wollte, ertönte Musik vom Strand. Die Welt war hartnäckig! Ich musste grinsen. Musik zog mich schon immer unsagbar an, ein Wehren war da zwecklos. Der Strand sollte es also sein.

Interessante Gespräche, viel Gelächter und eine wunderbare Stimmung füllten die folgenden Stunden; ich hätte es nicht missen wollen! Als ich schließlich Stunden später meinen Rückweg auf der einsamen Promenade begann, musste ich über die Art und Weise meiner Entscheidungsfindung lachen und schaute aufs Meer.

Die lange Seebrücke lag still im Mondlicht. Kurz entschlossen nutzte ich die Gelegenheit, wanderte bis zum letzten Pfosten und suchte mir einen Platz auf den noch warmen Holzplanken.

Um bei den Problemen meines kleinen Universums eine Entscheidung treffen zu können, existierten für mich immer nur zwei Werkzeuge, die zum Ziel führten: Gedanken und Gefühle. Im Grunde die klassischen Wege, um Überlegungen zu klären.

Klare Argumente schoben sich so manches Mal wie ein Bulldozer quer durch das Bewusstsein. Doch Realität in Worte gefasst, umschrieb lediglich das grobe Prinzip. Worte konnten nur annähern; völlig ungenau! Was war mit all den Kleinigkeiten, die manchmal im Leben die Waagschale zum Kippen brachten? Eine perfekte Entscheidung mithilfe von Gedanken war gar nicht möglich!

Doch leider können wir nicht immer auf Entscheidungen verzichten, weil uns sonst immer die gleichen Themen mit Zweifeln und Zwischenbemerkungen malträtieren würde und wir nie wirklich zur Ruhe kämen. Da halfen die Gefühle. Es entsprach dann dem Wechsel von einer Steintreppe zu einer einen Canyon überquerenden Hängebrücke, die mit viel Glück ein Ankommen bot.

Emotionen brauchten manchmal nur einen Sonnenstrahl, eine bereits färbende Erinnerung, ein falsch gesagtes Wort oder einfach den Blick in den dunklen Keller, um sich zu verändern. Damit entscheiden? Empfindungen wollten wie in einem Bälle-Bad einfach da sein, die Farben genießen und sich mit einem breiten Lächeln im Gesicht nach hinten fallen lassen …

Zack war er da, der Konflikt. Ein inneres Angespanntsein machte sich dann breit, ohne es überhaupt zu bemerken. Es gab Tage, da gewann die geradlinige, folgerichtige Seite und es gab Tage, da gewann die weiche, chaotische und empfindsame. Und es gab Tage, da saß ich seufzend dazwischen und stellte alles beiseite, bis sich das Thema wieder von ganz allein in den Vordergrund brachte; die Überlegungen gingen nie verloren, sie lagerten nur eine Weile ab, wie ein guter Wein oder der verkorkste.

Entscheidungen zu treffen bedeutete zu handeln; etwas zu tun. Also hing mein Handeln von meinen Gedanken und Emotionen ab. Außer die Welt kam mir zu Hilfe!

Ganz entspannt, wie das nun vor mir an den Holzbalken glucksende Wasser, folgte ich an diesem Abend den Gegebenheiten, weil ich dem Äußeren vertraute. Ich dachte, es müsste so sein, weil die Welt sich viel Mühe gab, mich zu überreden.

Verblüfft betrachtete ich den Mond. War es denn die Welt …?


Anm. z. Titel:

Nach dem gleichnamigen Buch von Kenjiro Yoshigasaki. Auf dem Weg zu meinem Seminar wollte ich ein kleines Buch mitnehmen, das meine Zeit in der Bahn füllen sollte. Es beschäftigte mich in den folgenden Tagen und auch an diesem Abend. Als ich auf der Seebrücke saß, hatte ich nicht das Gefühl, etwas zu verstehen, ich hatte nur das Gefühl, einer offenen Tür gegenüber zu stehen, die mir durch die Worte eines anderen gezeigt wurde. Es gab so viel Spannendes in der Welt und wenn wir durch unsere Wahrnehmung selbst die Welt waren, dann saß jeder Einzelne an der Quelle, die ein völlig entspanntes Handeln und Entscheiden möglich machte.

Fast unglaublich!

Kenjiro Yoshigasaki, Reise ins unbekannte Ich; Wege zu einem neuen Wahrnehmen, Heidelberg-Leimen, 2002.


Anm. z. Bild: https://www.angelika-poeter.de/