Dualismus scheint dem Körper ein innerstes Bedürfnis zu sein: Wir wollen mit den Füßen im Takt wandern, mit beiden Händen eine Richtung einschlagen und uns am liebsten im Gegenüber spiegeln. Unsere Augen sehen gemeinsam in eine Richtung und beide Ohren folgen dem Zirpen einer Grille. Ohne darüber nachzudenken, handeln wir immer wieder im Zweierpack. Es ist eine Art von Symmetrie, gleich den Erd-Polen, die uns mit ihrem Magnetismus erfassen. Egal, wo wir sind …
Ein Fauststoß zum Bauch schien dem Prinzip nicht folgen zu wollen. Er war etwas Einseitiges, ohne einen ruhenden Gegenpol; ein loses Ende, gleich einem offenen Stromkabel, das durch die Luft zuckte. So bewegte ich mich reflexartig aus der Angriffslinie heraus und legte meine Hände seitlich auf den entgegengestreckten Arm. Der Angreifer war nett, denn er war mein Trainingspartner und gefror einen Moment in seinem Tun. Da stand ich nun und wusste ganz genau, dass ein einfaches zu Boden führen nicht als Lösung brauchbar war. Druck erzeugte sofort Gegendruck; im Zweifelsfall lief es auf ein Kräftemessen hinaus, das Schulhofqualitäten besaß.
Es war so schwer! Diese Reaktion meines Gegenübers hätte ich sogar lediglich mit einer Anspannung in den Armen hervorgerufen; selbst diese Kleinigkeit wird vom anderen als Druck empfunden. Fehlte also die Leichtigkeit des Seins, käme die geballte Wucht des anderen. Das war nicht nur schwierig! Die Lösung des Problems schien mir fast unmöglich.
Unsere Trainerin nahm sich nicht nur die Zeit, jedem den feinen Unterschied zu zeigen. Sie nahm uns auch jegliche Illusion, die Technik schnell mal eben zu erlernen! Denn die Kunst lag nicht im intellektuellen Erfassen oder in einem Verstehen des Handlungsablaufes! Die Kunst lag in einem perfekten Zusammenspiel zwischen Körper und Geist.
Jetzt griff mich Julia an und ich legte meine Hände auf ihren zustoßenden Arm. Da war er, der springende Moment. Nun sollten verschiedene Elemente unter einem Hut gebracht werden. Das war leichter in der Vorführung zu verstehen, als selbst getan! Sie schaute mich an, weil sie mein Zögern bemerkte.
„Du kannst es nur immer wieder ausprobieren, irgendwann stimmt es!“
Mit der Visualisierung des eigenen Raumes sollte sich gleichzeitig die eine Hand auf die Innenseite des dargebotenen Ellbogens legen; die Aufgabe dieser Hand lag darin, die Richtung vorzugeben, nämlich zu Boden. Ein Öffnen meiner linken Schulter setzte dies dann auch um.
Während der zustoßende Arm des Angreifers auf diese Weise beschäftigt wurde, löste dies bei ihm den Impuls aus, mit der anderen Hand den Angriff zu vollenden. Ohne es zu wollen, würde er aber dadurch den festen Stand verlassen. Dies war der zeitlich perfekte Moment für den Verteidiger, der zu Boden führenden Richtung mehr Ausdruck zu verleihen.
Sinnbildlich gesehen stellte der Angreifer eine Frage und bekam vom Gegenüber eine angemessene Antwort;
auch eine Form von Dualismus … oder Yin und Yang
… oder das, was es im Grunde war: cooles Aikido!
Trainerin: Julia Wagner, 4. Dan
Trainingsort: https://aikidozentrum.com/
Anm. z. Text:
Dualismus:
1. Zweiheit, Gegensätzlichkeit, Polarität
2. philosophisch-religiöse Lehre von der Existenz zweier Grundprinzipien des Seins, die sich ergänzen oder sich feindlich gegenüberstehen (z. B. Gott – Welt; Leib – Seele)
3. Nebeneinander, Rivalität zweier Machtfaktoren in einem politischen System