Am Rande einer Welt

Ein ohrenbetäubendes Krachen fiel geballt aus den Wolken, vibrierte in meinem Zwerchfell und zwang mich erschrocken die Luft anzuhaltend. Meine hochgekrempelte Hose besaß keinen trockenen Flecken mehr, doch das machte nichts. Drei Meter vor mir lag etwas am Boden und band meine Aufmerksamkeit. Immer wieder fiel ein Widerschein des aufblitzenden Himmels durch die Wellen bis zum Grund. Mit einem tiefen Atemzug genoss ich vor einigen Minuten noch die Elemente um mich herum. Ich war die Entspannung selbst. Jetzt hallte das Echo meines Herzschlages über die Wasseroberfläche; ein für mich vernehmbarer Ton.

Die üblicherweise am Horizont heraufrollende Sonne war mir heute Morgen nicht vergönnt. Dafür knisterte die Luft. Eine Art Wetterleuchten ersetzte die Aufgabe, bis es sich in diesem Moment als ein ausgewachsenes Gewitter entpuppte. Diese kleine Feinheit im Unterschied drang nicht mehr in mein Bewusstsein. Gleich in einem Richtstrahl der Enterprise gefangen, stand ich bewegungslos im Wasser. Ich sah und hörte nichts mehr; einer meiner Probleme mit der Welt: wenn ich fasziniert war, dann total und ohne Wenn und Aber…

Drei Meter waren nicht viel, doch meine Entfernung zum Strand dehnte sich bereits um das Dreifache dieser Distanz. Ein kurzer Blick nach oben zeigte mir das schnelle Zusammenziehen und Verändern des Himmels. Ich ignorierte es. Manchmal gab es nicht so viel Zeit für Entscheidungen, dann hieß es: spring oder lass es für immer sein …

Als der riesige Blitzstrahl über meinen Kopf hinweg zuckte, erhellte er nicht nur den Himmel … er fraß sich durch die dunklen Wolken, er fraß sich durch die Linie des Horizontes und schoss unter der Wasseroberfläche auf mich zu. Ich sah es auf mich zukommen, ich hätte zur Seite treten können, aber vielleicht wollte ich auch nicht … So blieb ich stehen.

Wind kam auf und die Wellen schlugen stärker an meine Hüfte. Mittlerweile war ich durch und durch nass. Falls mich jemand fragen sollte, ich nahm ein altmodisches Bad in Ganzkörperbekleidung. Doch da war niemand, der mich hätte ansprechen können; nicht um fünf in der Frühe und auch nicht bei diesem Wetter … Schnelle Entscheidungen waren nun gefragt. Die Warnleuchte im Hinterkopf setzte sich immer mehr durch. Gelernte Verhaltensweisen bei Unwettern gehörten zu jeder Kleinkinderziehung und zwangen fast zur Handlung. Also sprang ich.

Ein Hinhechten, Untertauchen, Augen öffnen, Orientieren und Zugreifen fand seine Reihenfolge. Überraschend platzierte sich noch ein tonloser Aufschrei, ein nach Hinten fallen, ein Japsen und schließlich wieder auftauchen. Ich betrachtete meine zusammengeballte Faust.

Das war richtig eklig! Genau hier mussten tausend Algen oder sonstige merkwürdige Pflanzen am Boden wachsen. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich denken können, sie wollten mich festhalten. Totaler Quatsch, aber trotzdem ein merkwürdiges Gefühl.

So schnell ich konnte, rannte ich durch das dunkle Wasser zum Strand. Das Unwetter legte nun richtig los. Jetzt kam das Wasser auch von oben mit aller Wucht. Eine ungünstige Sachlage, wenn man nicht hinter Fensterscheiben den Weltuntergang bestaunte.

Völlig außer Atem und erschöpft setzte ich mich oben an der Strandpromenade unter einen vergessenen nicht zugeklappten Sonnenschirm. Erschrocken musterte ich meine Hand. Der ganze Handrücken blühte mit rot-grünen Striemen, als hätte ich mit einem Oktopus gekämpft. Schmerzen hatte ich keine, wahrscheinlich vorerst nicht.

Langsam öffnete ich meine Hand. Tatsächlich ragten schleimige, halb verrottete Algen heraus. Neugierig rührte ich mit dem Zeigefinger meiner linken Hand ein wenig in der breiigen Masse herum. Eine kleine, fast winzige Muschel zeigte sich. Sie schien durchsichtig zu sein. Das dunklere Innenleben schimmerte hindurch. Überrascht berührte ich sie. Ich wusste gar nicht, dass solche überhaupt existierten. Sie fasst sich wie Glas an. Natürlich! Es war bestimmt keine Echte, sondern solch ein Souvenirstück aus den hiesigen Läden! Beim näheren Betrachten sah ich sogar das eingefräste Loch für ein Halsband. Fast ein wenig enttäuscht, blickte ich auf und suchte mit den Augen nach einem Papierkorb.

„Oh, du hast es gefunden!“

Erschrocken über eine Stimme stand ich mit einem ruckartigen Satz auf, blieb mit dem Kopf an dem Sonnenschirm hängen, kippte ihn dadurch und gleichzeitig wollte ich ihn im Fallen mit der linken Hand aufhalten. Mein Gegenüber reagierte ebenso, vergaß aber, dass die zugreifende Hand gerade ein großes Badetuch um den Körper hielt.

Es gab morgens in der Frühe viele Schwimmer, die sich einfach hüllenlos in die Wellen warfen. Warum auch nicht? Jeder wie er mochte. Und die junge Frau, die mir gegenüber stand, konnte es sich eindeutig leisten. Selbstbewusst stellte sie den Sonnenschirm gerade, hob ihre eigenartige Decke vom Boden, die mir irgendwie bekannt vorkam und legte sie sich wieder um den Körper. Sie lächelte mich an.

Ich lächelte zurück. Vom Schreck hatte ich mich erholt und betrachtete nun etwas verstohlen ihre wunderschönen Zeichnungen auf dem Körper. Ihre Haut war fast schneeweiß. Von ihrem linken Arm bis zum rechten Fuß zog sich eine windende, olivfarbene Zeichnung. Sie glich den unter Wasser bewegenden Pflanzen; den besonders Schönen und Kraftvollen. Begeistert zeigte ich auf ihren Arm:

„Das sieht wirklich wunderschön aus! Als stündest du von der Sonne beleuchtet zwischen Algen im Meer!“

Etwas irritiert, dachte ich einen Moment darüber nach, wie ich auf solch einen Vergleich kommen konnte, aber er beschrieb sie.

Die Schwimmerin stellte sich ebenso unter den Sonnenschirm, obwohl der Regen nun nur noch ein wenig tröpfelte. Wir beide waren total nass, es gab aber Sachen, die tat wohl jeder automatisch. Als sie nur noch eine Armeslänge entfernt stand, erkannte ich, warum mir ihr Handtuch so bekannt vorkam. Es war eine von den Tischdecken des nächsten Restaurants! Die etwas angegrauten Trotteln hingen an den Seiten wasserschwer herunter.

Es war eine merkwürdige Situation. Ich fragte nicht, was sie hier machte und sie fragte nicht, warum ich klitschnass unter einem Sonnenschirm Schutz suchte, was im Grunde völlig sinnlos war und während eines Gewitters auch ein wenig fragwürdig. Wir betrachteten uns gegenseitig. Konventionen schienen nicht zu existieren, also mussten wir sie auch nicht berücksichtigen. Morgens um fünf bei Sonnenaufgang während eines Gewitters gab es keine unnützen Formregeln.

Auf ihrem Dekolleté sah ich ein Glitzern, als hätte sie sich wie ein Teenie Glitzerpuder auf die Haut gestreut, um den Blick des Gegenübers zu fangen. Es fing meinen Blick, weil ich darüber nachdachte, wie das Glitzern beim Schwimmen überhaupt halten konnte und am liebsten hätte ich mit dem Zeigefinger ein wenig gerubbelt, um die Festigkeit des Glitters zu prüfen. Als sie sich für einen Moment schräg zum aufklarenden Himmel stellte, hätte ich schwören können, dass das Glitzernde in ihrer Haut verschlossen sei, als besäße sie das Äußere einer Regenbogenforelle, die sich glücklich im Sonnenschein an der Wasseroberfläche zeigte.

Sie lächelte mich immer noch an, nahm meine linke Hand und berührte mit meinen Fingern ihre Haut am Hals. Überrascht japste ich ein wenig, da sich in meinem Kopf ein Bild zeigte. Ein Sonnenstrahl fiel in aquamarin- und türkis-farbenden Strahlen zum sandigen Meerboden, der so fein zu sein schien, als käme er von den wunderbaren Stränden auf Hawaii.

Sie lachte leise und strahlte mich an. Ich wusste, sie kannte das Bild in meinem Innern. Sie sah, was ich sah und es war ein Teil ihres Geheimnisses, das sie umleuchtete, wie eben noch der Himmel in seiner unglaublichen Schönheit.

„Du hast etwas, was mir gehört.“

Einen Moment hielt ich inne. Die kleine gläserne Muschel! Als ich den Gedanken dachte, blickte ich wieder auf meine rechte Hand, um sie nochmals zu öffnen. Immer noch hingen diese Algen etwas heraus, doch die kleine Muschel schien zu irisieren. Sie leuchtete von innen. Ich schaute hoch und sah die junge Frau vorsichtig mit ihrem rechten Zeigefinger die Muschel berühren.

Ein kurzes Aufleuchten blendete mich, sodass ich im Reflex die Augen schloss. Als ich wieder auf meine Hand blickte, lag dort eine kleine helle Perle. Sie schimmerte aquamarin und türkis. Mit einem Wissen in meinem Inneren umschloss ich das Geschenk und lächelte. Ich war allein.

Die Sonne stand nun voll und ganz am Horizont, wie sie es immer tat, aber für mich doch ein klein wenig anders: Der frühe Morgen offenbarte deutlich sein ureigentliches Versprechen.

Jeder Tag bringt Neues und Aufregendes …