Mit dem Finger zwischen den Buchseiten stand ich vor meinem Regal und suchte ein Lesezeichen. Manchmal steckten welche irgendwo dazwischen und manchmal lagen sie rum. Meine Hand griff zu, ich warf einen Blick darauf und legte es wieder zurück. Mitten in der Bewegung hielt ich inne. Warum tat ich das? Ich schaute auf dies ungeliebte Ding. Ein Stofflesezeichen, das ich vor unzähligen Jahren geschenkt bekam und gefühlt noch nie benutzt hatte. Ich mochte es nicht. Und was ich nicht mochte, legte ich nicht zwischen die Seiten eines guten Buches!
Die interessante Frage war nun, warum besaß ich es dann noch? Dieses bunte, genähte Stück würde dem einem oder anderen bestimmt gefallen, es war auf seine Art witzig. Mir gefiel es aber nicht. Also benutzte ich es nicht. Wie oft hielt ich es schon in meiner Hand und legte es wieder zurück? Wie oft schweifte mein Blick darüber hinweg und das Nicht-Mögen blieb als Schatten in mir hängen?
Meine Finger umschlossen das Lesezeichen. Ich atmete tief durch, legte das Buch zur Seite, ging nach draußen zur Mülltonne und versenkte dies Geschenk so tief im Restmüll, dass ich es bestimmt nicht mehr herausholen mochte. Der Deckel der Tonne klappte zu und zwischen die Seiten meines Buches kam ein Stück Geschenkband. Krass. Seit Jahren haderte ich mit diesem Lesezeichen: Schließlich hatte sich ein lieber Mensch Gedanken gemacht und es für mich besorgt. Außerdem mochte ich keine Verschwendung. Dinge sollten bis zur letzten Nutzbarkeit ausgeschöpft werden; das war eine Frage der Wertschätzung dem Material gegenüber. Doch heute hatte ich genug. Ich hatte genug von der wiederkehrenden Schleife der Überlegung.
Jetzt brauchte ich einen Kaffee. Ich entsorgte eine Kleinigkeit und fühlte mich, als hätte ich etwas total Verwerfliches getan! Ich setzte mich auf den Hocker und schaute raus. Wie viele Dinge besaß ich noch, die sich um mich herum befanden und nur gemischte Empfindungen bei mir auslösten? Wie oft ging ich durch einen Raum und bemerkte nicht einmal, dass mein Unterbewusstsein etwas wahrnahm, was mir nicht gefiel? Da war man plötzlich schlecht drauf und wusste überhaupt nicht warum!
Es lag allein an mir! Wach zu überprüfen und das Resultat umzusetzen, das konnte ich nur selbst tun. Das war etwas Greifbares! Ich musste mich nur bewegen.
Nachdenklich hielt ich meinen Becher mit beiden Händen. Das wäre ein schier unendlicher Prozess des Herumwirbelns! Wie oft dachte ich darüber nach, dass dies oder das überhaupt nicht mehr passte oder mir nicht gefiel? Da brauchte ich nur in meinen Kleiderschrank schauen. Oder was lag unerledigt herum? Wie oft überfiel mich das schlechte Gewissen, weil ich keine Lust darauf hatte, die Steuer zu erledigen, den Wasserhahn zu reparieren, einen Knopf anzunähen oder die Säcke mit dem Schnittgut endlich mal zum Bauhof zu bringen?
Wie gut ließ es sich durch einen Raum gehen, wenn Dinge allein nur beim Vorüberschlendern mein Innerstes unbemerkt negativ beschäftigten? Natürlich könnte ich all das ignorieren. Doch hieße ein bewusstes Hinwegsehen nicht, dass ich aktiv sein musste, um etwas nicht nah an mich herankommen zu lassen? Wäre es dann nicht in Zeiten des Energie-Sparens angebrachter, es ein für alle Mal aus dem Weg zu schaffen? Wie viele innere Ressourcen band ich mit einem Darüber-Hinwegblicken? Wie viel bekam ich dann überhaupt vom Rest der Welt mit, wenn ich solche Beschäftigungsspielchen trieb? Wahrscheinlich zeigten es genau die Tage, an denen ich einfach völlig erschöpft aufs Bett fiel, obwohl das Tagespensum keinen Grund dafür darstellte.
Ich stellte den Becher an die Seite und krempelte die Ärmel auf. Da ließ sich eine Menge ändern …
Anm. z. Titel:
Wenn Materie es schaffte, in uns eine Resonanz auszulösen, dann entsprachen wir einer Marionette am frisch geknüpften Faden. Mit all den wunderbaren und wunderschönen Dingen ließen wir es gern geschehen, aber was war mit dem Negativen?
In unserem Zuhause besaßen wir normalerweise zu jedem Ding eine Beziehung: Wir wussten woher ein Gegenstand kam, ob er uns überhaupt gehörte, wie alt er war oder ob er zu reparieren wäre. Egal, wo man sich in seinen Räumen hinstellte, mit der Wahrnehmung auf bewusster, aber auch unbewusster Ebene reagierte unser Körper. Ein Faden bestand zwischen dem Ding und uns. Er wickelte sich um das Innere. Ein Atmen wird schwer, wenn sich Luft für ein unbeschwertes Leichtsein mit jedem negativen Wechselspiel verringerte. Wir nahmen uns selbst gefangen …
Anm. z. Titel-Bild: Photo by Christelle BOURGEOIS on Unsplash
Das wird umso bewusster wenn man Urlaub in einem Ferienhaus macht und plötzlich von lauter fremden, dennoch nützlichen Gegenständen umgeben ist. Und wenn erhebliche Teile der mitgebrachten Gegenstände gar nicht so dringend benötigt werden wie beim packen noch vermutet bzw befürchtet 😉
Das Nachhausekommen ist dann ein sensibler Moment, weil man mit wacheren Augen durch die Räume geht…
Herzliche Grüße!
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Oh, die Formulierung „sensibler Moment“ gefällt mir! Sie trifft es auf den Punkt genau! Danke Dir, liebe Anna, und viele Grüße zurück 🙂
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Ist Freiheit „sich einfach nur von Altem (oder Alten)/ungewünschten/nicht mehr gewollten/nicht mehr modernen/jetzt anders Gesehenem) zu entledigen?
Ich bezweifle es.
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Die Freiheit liegt darin, uns wieder einen Freiraum zu erschaffen. Es soll nichts weggeworfen werden, weil es alt ist, sondern weil es in uns etwas Negatives auslöst. Wenn wir etwas betrachten und in uns kommt das schlechte Gewissen hoch, weil wir es nicht repariert haben, dann wird es Zeit dies zu tun. Wenn es jemand anderen gehört, dann sollte es dorthin wieder zurück gebracht werden, wenn etwas uns an schlechte Zeiten erinnert, dann wird es wahrlich Zeit, dies Ding zu entsorgen. Unerwünschte Empfindungen werden angepackt, denn wir nehmen uns die Freiheit, diese nicht mehr empfinden zu wollen.
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