Über Grenzen hinweg

Die Sonne brannte schon, der Wind kühlte noch und die Wellen rollten lautstark kurz vor unseren Zehen aus. Blendend spiegelte sich die Morgensonne auf der Oberfläche des Meeres. Ich blinzelte und schaute für einen kurzen Moment zu den in der Nähe stehenden Menschen. Ich sah ihre Versunkenheit, ihr Genießen des Hier-Seins und das Wohlfühlen inmitten aller. Jetzt beim Qi-Gong am Meer hielt die Welt für uns still. Als stoppte ich einen Film und könnte aus diesen heraustreten, um einer vorbeifliegenden Biene auf die Flügel zu schauen.

Weit breitete ich meine Arme aus. Im ersten Moment glaubte ich noch, die Reichweite der Fingerspitzen erfasst zu haben, aber mit einem anderen Bild vor meinem inneren Auge dehnten sie sich und hinterließen das Gefühl, dies unendlich tun zu können.

Viele Wege führten zu den eigentlichen Geheimnissen des Menschseins. Einmal auf die Suche gemacht, erschien es mir als eine unverzeihliche Ignoranz, wenn ich nicht ab und zu davon eine Wegstrecke ging. Manchmal blieb ich ganz überrascht an einer Pforte hängen und fragte mich wirklich, warum ich diese nicht vorher sah. Doch alles besaß wohl seine Zeit und folgte gewissen Bedingungen.

Das eigene Agieren geschah normalerweise von einem selbst weg, nach einem Außen; so kannten wir es, seitdem wir die ersten Schritte auf unseren Beinen gingen. Wie sollten wir es auch anders können? Nicht jeder unserer Sinne bekam vom ersten Tag an die gleiche Aufmerksamkeit!

Das Sehen mit dem Auge stand an oberster Stelle. Doch das Wahrnehmen und vor allem Nutzen des eigentlichen inneren Zustandes musste so manches Mal über viele Jahre mit einem staubigen, unerkannten Dasein leben. Das Visuelle schob sich davor, einfach ohne zu fragen. Was wir sahen, war für uns echt! Was wir fühlten, kam immer mit Zweifeln.

Mit meinen Fingerspitzen berührte ich den über uns hinweg wehenden Wind. Geerdet im noch feuchten Sand fühlte ich mich wie ein mitschwingender Ast, der trotzdem die Sicherheit des Stammes in sich trug. Das innere Empfinden und das Fühlen mit meinen Gliedmaßen sollten plötzlich als Einheit zusammen fließen. Ich durfte gar nicht darüber nachdenken. Je mehr mein Kopf von dem Phänomen erfassen wollte, umso mehr verflüchtigte es sich. Manche Dinge ließen sich nicht logisch nachvollziehen, die musste man einfach tun.

Ich schaute über das Meer. Alles war neu für mich. Wie sollte ich das in Worte fassen, was sich ganz zaghaft durch eine Zusammenarbeit zwischen Körper und Geist als anwesend meldete? Was konnte ich damit anfangen? Warum war ich so sicher, es wäre etwas aus mir selbst heraus produzierbar? Glaubte ich nur daran, weil ein Lehrer es mir versicherte?

Wir konnten uns eine Menge einreden. Placebos gab es in allen Bereichen! Etwas glauben konnte wirklich Berge versetzen. Andererseits: Warum war ich mir nun mit dem so unsicher, was ich fühlte? Ich könnte schließlich genauso gut über spitze Steine gehen und mir einreden, sie seien nicht da! Im Grunde war die Antwort einfach: Weil Gefühle immer nur etwas mit mir zu tun hatten! Niemand anderes würde jemals einen Blick darauf werfen können. Niemand könnte mir versichern, dass mein Empfinden richtig sei, niemand konnte mein Innerstes prüfen.

Im Grunde erhellend: Warum achteten wir überhaupt darauf, wie andere unser Handeln beurteilten? Niemand würde jemals verstehen können, was uns dazu bewog! Weiter gedacht, war es genauso erschreckend, wie sicher wir uns in einem Miteinander ob der Gefühle anderer waren!

Ich stand in Wind und Sonne und wusste es einfach! Ich wusste, dass es mehr gab. Ich wusste, dass wir niemals aufhören durften, unser Innerstes zu erforschen. Hier begann unsere Welt; hier öffneten sich Universen, deren Zutritt uns an allen anderen Ort sonst verwehrt wäre.

Wir brauchten in keinem Außen zu suchen. Alles war genau da, wo wir standen …