Das Verborgene der Sakura

Die großen Fragen fielen vom Himmel und waren einfach da; egal, wo wir uns gerade befanden. Ich saß vor den weit geöffneten Fenstern auf den Matten des Dojos und betrachtete von schräg unten den tiefblauen Himmel. Aikido konfrontierte mich immer wieder mit mir selbst. Anders ließ es sich kaum ausdrücken. Das Wesen der Kunst wohnte in den spiralförmigen Bewegungen: Durch sie sprach die Vergangenheit zu uns und wenn wir wollten, trugen wir gemeinsam mit anderen ein Stück Gegenwart in die Zukunft.

Nun saß ich da und rekapitulierte das Gelernte. Gleich dem Schöpfen von Wasser mit der bloßen Hand, konnte ich etwas erfassen, doch anderes floss davon. So war es immer: manches blieb, manches ging. Ich schaute auf meine Hand und bewegte die Finger. 27 Knochen fügten sich gleichzeitig, ohne dass ich mir dessen Vielzahl bewusst war. Ein Ergreifen mit ihnen brauchte kein Nachdenken, kein Abschätzen, Zirkeln oder bewusstes Fokussieren und trotzdem wurde das Ergebnis perfekt.

Die Technik Ikkyo erschien eine gänzlich einfache Angelegenheit zu sein und trotzdem wusste ich von Fortgeschrittenen, dass sie dies „Einfache“ förmlich studierten. Am Anfang war es mir absolut unverständlich, wonach sie suchten. Was gab es denn schon an einer Technik zu erforschen oder zu ergründen? Es erschien mir als eine Handlungsabfolge wie jede andere auch; ein Tun gleich einem Binden eines Schnürsenkels.

Ich schaute wieder in den Himmel und erinnerte mich an eine Situation in der letzten Woche auf einem Seminar, als ich einen Aikidoka nach dem Training auf dem Boden liegen sah. Er starrte zur Decke. Besorgt fragte ich ihn, ob alles in Ordnung sei. Er lächelte mich an, dachte einen Moment nach und sagte:

„Ich muss alles vergessen!“

Irritiert überlegte ich, was er damit meinen könnte. Er nickte nur, im Grunde zu sich selbst, richtete sich auf und ergänzte:

„Ich muss vergessen, damit ich lernen kann!“

Heute saß ich selbst da und blickte nach oben. Heute verstand ich ihn. Ich konnte meine Teetasse nur mit etwas Neuem auffüllen, wenn ich diese vorher leerte. Das Merkwürdige lag dann darin, dass sich die Teetasse mit jedem neuen Befüllen immer wieder veränderte. Sie wurde schöner, aber auch nützlicher, ohne dass ich sie aus meiner Hand legte. Ihre Wände erhielten eine Stabilität, die einem Neuen gegenüber offener werden ließ, vorausgesetzt, ich hielt an dem Alten nicht fest.

Unser Lehrer zerpflückte dies „Einfache“ in gefühlt tausend Aspekte und veränderte es dadurch. Die Veränderung lag dann nicht nur in meiner Sichtweise oder Betrachtung dieser Technik. Die Veränderung lag auch in der Resonanz zu mir selbst, während der Ausübung. Was machte etwas mit mir, wenn ich „gerade blieb“? Was machte etwas mit mir, wenn ich mir „Raum gab, um etwas auszuführen“? Was machte etwas mit mir, wenn ich mit meinem Zentrum, mit dem ganzes Sein, die Mitte meines Gegenübers suchte, um ihn davon abzuhalten, mich anzugreifen?

Es wird Jahre dauern, bis das Erlernte selbstverständlich in mir ruhen würde. Das machte aber nichts, denn ich bekam eine Ahnung davon, welche Tiefen im „Einfachen“ möglich waren. Brauchte es überhaupt mehr, um einen Weg zu gehen?


Trainer: Matthias Lange, 5. Dan

Trainingsort: https://aikidozentrum.com/


Anm. z. Titel: „Sakura“ bezeichnet die japanische Kirschblüte. Sie wird mit Schönheit, Aufbruch und Vergänglichkeit in Verbindung gebracht. Für mich ist es zudem das Zarte und das sich kaum in den Vordergrund Drängende und trotzdem Vorhandene, das mich gerade dieses Bild mit dem Kennenlernen von Neuem in Verbindung bringen ließ.

Erst glauben wir etwas zu erkennen, etwas voll und ganz zu verstehen; wir machen uns ein „Bild“, das wir loslassen müssen, um das Dahinterliegende überhaupt erfassen zu können.