Waffen besaßen ihren eigenen Reiz; das hörte sich nun gefühllos, radikal und martialisch an, denn das Angreifende und Zerstörende in ihrem Wesen konnte niemand verstecken.
Es gab mehr …
Eine Waffe schenkte auch Sicherheit: Sie gab das Gefühl wehrhaft zu sein. Vielleicht vermieden wir auch so manches Mal nur aufgrund des demonstrativen Besitzes eine Auseinandersetzung. Das war eindeutig positiv.
Manchmal wundere ich mich selbst, dass ich so etwas äußere. Schließlich gehöre ich zu den Menschen, die Waffen als etwas Gewalttätiges und nicht Nutzbringendes empfindet. So besaß das Arbeiten mit Stock und Schwert in der ersten Zeit für mich eine zwiespältige Rolle. Aufgrund meiner inneren Einstellung, fiel es mir schwer, diese in ihrer Aufgabe und Bedeutung einzusortieren.
Es gab mehr…
Heute begannen wir mit dem Stab. Schon bei den Aufwärmübungen starteten wir mit besonderen Schritt- und Fasskombinationen, die allein für sich eine Herausforderung an den Körper darstellten. Manchmal drehte sich das Holz in den Händen unseres Lehrers so schnell, dass das betrachtende Auge dem nur schwer folgen konnte. Der Eindruck eines gefährlichen, nicht einschätzbaren Wirbelns drängte sich unweigerlich auf. Diese Tatsache schätzten schon die Samurai und nutzten das damit einhergehende Vergrößern der eigenen Reichweite.
Jeder, der mit dem Stock arbeitete, spürte sofort innerhalb der Bewegung die Fliehkräfte. Sie wollten einer eigenen Bahn folgen. Wer sich auf diese konzentrierte, konnte nicht umhin, sich darin fallen zu lassen. Sie fühlten sich so besonders vollkommen, rund und richtig an. Es war ein Begleiten eines Stroms auf seinem Weg. Manchmal wollte ich am liebsten die Zeit anhalten, um meine Hände hinein zu legen, als tauchte ich sie in ein weiches Kissen, das mich trotzdem vermochte zu tragen.
Eine Stunde lang baute Pascal eine Kampfabfolge auf, die den Angreifer und Verteidiger im Wechsel gefühlt tausend Kleinigkeiten durchführen ließ. Aktion und Reaktion folgten im Takt: Jeder Schlag, jedes Ausweichen, jedes Voranpreschen, jedes Herumwirbeln besaß seinen Platz.
Als ich am Ende der Stunde den zwei besten Schülern bei ihren Ausführungen zusah, breitete sich förmlich eine Wolke von Impulsen aus, als tobten sie in der Wüste unter der heißen Sonne. Ihre Gesichter fixierten das Gegenüber mit einem konzentrierten Ausdruck. Nichts anderes besaß Platz, nichts anderes bekam überhaupt noch Raum, nichts anderes war mehr für sie wichtig. Ein Vergessen des eigentlichen Tuns machte dann das richtige Tun möglich, weil es von sich aus geschah.
Unser Lehrer wies uns immer wieder daraufhin, dass wir einem Rhythmus folgen sollten. Mit der Eröffnung der ersten Bewegung sei immer klar, wer gerade etwas tat. Er verglich es mit dem Tennis-Spiel: Der Ball war immer nur auf einer Seite, nämlich auf der, die gerade dran war. Wie lange dieses Dran-sein währte, das war eine ganz andere Sache!
Ziemlich schnell entsteht dadurch bei einem Betrachter die Frage, inwiefern solch eine vorgegebene Abfolge überhaupt noch etwas mit einem richtigen Kampf zu tun hatte. Schließlich wusste jeder, was er von seinem Gegenüber erwarten konnte. Gab es dann noch die Überraschung im Detail, die einen Kampf zu einem solchen machte?
Wenn es für die Aikido-Waffe eine Art „friedlichen Sinn“ gab, wie sah dieser aus? Worauf kam es denn auf der Matte mit der Waffe in der Hand überhaupt an? War dies nur ein Überbleibsel aus alter Zeit, das sich als Mittel zum Zweck wiederfand? War sie eine Erinnerung, die uns half, lediglich die aus der Handhabung resultierenden Techniken besser zu verstehen?
Es gab mehr …
Als sich die Matte nach dem Unterricht leerte, stand ich noch immer dort. Meine bloßen Fußsohlen fühlten den federnden Untergrund, der mit jeder minimalen Verschiebung der eigenen Achse ein klein wenig nachgab. Gleich einem Kontergewicht lag der Jo in meiner rechten Hand, die diesen am letzten Drittel des Holzes hielt. Nun schwang ich große Achten durch die Luft und ließ meinen Körper durch die Bewegung mitgehen.
Die fassende Hand spürte die Fliehkraft nur ein wenig in der Führung nach links und rechts. Durch den Zug im Stab bemerkte ich aber auch im Handballen die vielfache Auswirkung vom äußeren Ende, das wesentlich größere Kreise zog. Diese Kraft beeinflusste meinen Körper. Es war eine Art Schwingen, das mich mit einschloss. Unsichtbare Flieh- und Erdanziehungskräfte materialisierten sich und brachten sich wieder in mir selbst zum Ausdruck.
Etwas Äußeres konnte mir zeigen, was mein Innerstes vermochte. Die Verlängerung meines Armes durch den Stab vergrößerte die Einwirkungen, vergrößerte die Impulse von außen und verwies somit in einem überdeutlichen Maße auf deren Existenz. Das Prinzip, wie das eigene Zentrum als ruhender Pol innerhalb eines Weltgefüges nutzbar war, zeigte sich dadurch viel deutlicher. Jeder, der es ausprobierte, konnte dies spüren oder ignorieren.
Die Wahrheit der Dinge ließ sich wie bunt verstreute Blüten aufsammeln, einige wollen wir besitzen, andere nicht: Die Wunderbaren in der Hand verminderten nicht die Schönheit der übrigen; doch glühten sie gleich eingefangenen Sonnenstrahlen in unserem Innern als ein Teil eines Ganzen, das uns umgab und ein Versprechen schenkte:
Es gab immer ein Mehr … !
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Trainer: Pascal Durchon, 6. Dan
Trainingsort: https://www.aikido-hh.de/
Was für ein wunderschönes Bild, das Du da beschreibst, liebe Christine: Die Wahrheit der Dinge ließ sich wie bunt verstreute Blüten aufsammeln. Gefällt mir sehr gut, und das Lesen macht tatsächlich Lust auf mehr. Ich danke Dir.
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Tausend Wege führen nach Rom und jeder Einzelne findet einen anderen Weg, um dem Leben nahe zu kommen. Das miteinander Teilen dieser Wege machen diese noch bunter, lebendiger und aufregender und ich bin davon überzeugt, dass sie genau deshalb in eine gemeinsame Richtung führen. So danke ich Dir für Deine lieben Worte 😀
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So schön, da bin ich ganz bei Dir!
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