Der schmetterlingshafte Oktopus

Seine rechte Hand griff zu meinem Hals. Noch immer war dies eine irritierende Geste, die meine Aufmerksamkeit sofort hellhörig werden ließ. Doch mittlerweile reagierte mein Körper wie beim Autofahren ohne Überlegung. Automatismen mögen manchmal einen schlechten Ruf besitzen, doch sie helfen ungemein, wenn der Kopf mit anderen Aspekten beschäftigt war.

Der Griff meiner rechten Hand begleitete den Zugriff wie an einem Faden gezogen und mein Körper bewegte sich nach links aus der direkten Linie heraus. In solchen Momenten fühlte ich mich wie ein Torero, der mutig dem kommenden Unheil entgegenblickte und mit einer eleganten Bewegung sein Leben in Sicherheit brachte.

Das Miteinander auf der Matte besaß seinen eigenen Rhythmus. Gleich Wellen lösten sich in einem schnellen oder langsamen Bewegung Aktion und Reaktion ab oder verzahnten sich in einem Aufnehmen und Abgeben ineinander. Manchmal in besonders intensiven Momenten erschien mir das Trainieren wie eine wirbelnde bunte magische Kugel, die ich in meiner Hand hielt, um durch ein offenes Tor in eine andere Welt zu schauen. Das absolut Magische lag dann in der Tatsache, dass es überhaupt keine andere Welt war, sondern genau hier und jetzt geschah.

Solange kein eindeutiges Auf-der-Matte-Liegen ein Ende der Übung signalisierte, solange gab sich kein Angreifer mit einem „Vorbei-Laufen“ zufrieden. Der inne liegende Rhythmus wechselte lediglich immer wieder den aktiven Part. Während der Angreifer herumwirbelte, da seine Intention darin lag meiner habhaft zu werden, gab ich mir selbst durch zwei weitere Schritte ein wenig Raum.

Wer schon einmal versuchte, inmitten einer vorpreschenden Bewegung eine vernünftige Kurve zu nehmen, der wusste, dass die eigene Achse dabei voll und ganz den Fliehkräften unterlag. Oft sah es dann so aus, als würden wir uns an einer Haltestange herumschwingen. Wenn alles schief ging, lag unser Gleichgewicht dabei nur noch auf einem Standbein.

Mit gerunzelter Stirn beobachtete unsere Trainerin das Üben und unterbrach für einen kurzen Moment.

„Nicht ziehen!“

Anschaulich demonstrierte sie mit einem Fortgeschrittenen die Auswirkungen, die bei dem am Handgelenk Ergriffenen zu sehen waren, sobald sich der Angreifer beim Herumwirbeln nicht kontrollierte. Die zwei Vorwärtsschritte waren dann für den Verteidiger kaum möglich, da er durch den Zugriff selbst aus der Bahn geriet.

Lächelnd schaute Julia in die Runde:

„Ihr nähert euch schmetterlingshaft … kein Ziehen und kein Zerren! Außerdem … “

Erneut stellte sie sich hinter den Trainingspartner.

„Eine Etage tiefer bitte! Die Handinnenflächen liegen satt auf dem Handgelenk! Das geht nur, wenn wir unsere Knie benutzen!“

Dies vollständige Andocken mit der gesamten Handinnenfläche stellte nicht nur den Kontakt her, sondern übermittelte jegliches Vorhaben unseres Gegenübers.

Die ewige Frage, inwiefern solch eine Situation überhaupt im echten Leben Bestand hatte, lag einem unbedarften Betrachter mit Sicherheit auf der Zunge. Es war eine Frage, deren Antwort sich mir erst mit längerem Training zeigte. Auf der Matte schufen wir perfekte Bedingungen, um einem Lernen jeglichen Raum bieten zu können. Die meisten Menschen lernten nacheinander. Jedenfalls war es bei mir so.

Schließlich konnte sich ein Übender nicht auf alles gleichzeitig konzentrieren. Wenn die Technik erst einmal verstanden war, dann machte es nichts aus, wenn sich Rahmenbedingungen veränderten. Doch ohne guten Bedingungen ließ sich schwer etwas Neues üben. So war jeder im Dojo bemüht, seinem Trainingspartner das Beste zu geben.

Dafür lernten wir Kontrolle, dafür erkannten wir unsere Automatismen und dafür erforschten wir unsere Möglichkeiten, denn …

…the purpose of training is to tighten up the slack, toughen the body, and polish the spirit.

(Morihei Ueshiba)

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Trainerin: Julia Wagner, 4. Dan

Trainingsort: https://aikidozentrum.com/