Irgendwo waren die kleinen Unterschiede versteckt! Je mehr ich während einer Technik-Erklärung über das Warum oder Weshalb nachdachte, umso mehr offenbarte sich die Tatsache, dass sich ganz leicht mitgebrachte Erfahrungswerte aus dem normalen Leben in unsere Gedanken einschlichen. Tief in uns ruhend, umrankten sie den Strom der Überlegungen, ohne überhaupt bemerkt zu werden.
Kam mir jemand mit entgegengestreckter Hand entgegen, dann empfand ich dies – mit oder ohne Lächeln meines Gegenübers – als eine freundliche Geste, der ich ebenfalls ein gewisses Wohlwollen entgegenbrachte. Es war positiv von beiden Seiten. Allein das Händeschütteln hievte die Beteiligten auf eine Augenhöhe in ihrem Miteinander.
Anders sah die Angelegenheit aus, wenn das Zufassen um zwanzig Zentimeter verrutschte und plötzlich das Handgelenk ergriffen wurde. Innerhalb eines Augenblicks veränderten sich die Vorzeichen der gefühlten Wertigkeit. Es gab plötzlich einen Guten und einen Bösen, wie im Wilden Westen auf der staubigen Straße mit einer Handbreit vom Revolver entfernt. Hier unterschied eine kleine Distanz zwischen Freund und Feind. Die Intention des Gegenübers ließ keinen Spielraum zur Deutung und verteilte mit der Handlung sogleich einen Eindruck über die Sachlage und den Mitwirkenden. Wer konnte solch eine Situation wertfrei betrachten?
Das Ergreifen des Handgelenkes entsprach aber auf der Matte einer tugendsamen Absicht, da schließlich jeder jedem die Möglichkeit bieten wollte, eine Technik vernünftig zu üben. Trotzdem bewegte diese friedvolle Intention das Prinzip eines Angriffs um keinen Zentimeter. Konnte dann überhaupt eine gemeinsame Augenhöhe gefunden werden?
Während der Vorführung hielt unser Lehrer mit einem Lächeln genau an dieser Stelle inne und schwang sich nach außen herum. Er stand nun fast Seite an Seite mit seinem Angreifer, der aufgrund des für ihn unglücklich veränderten Winkels seiner fassenden Hand die eigene Position und auch die Höhe seines Standes automatisch korrigierte.
„Dies ist ein Treffen! Beide Seiten sollte es interessieren, wo sich ihr Gegenüber genau befindet, um jeweils richtig reagieren zu können!“
Bodo erklärte uns des Weiteren, dass die Ausrichtung zueinander die Kräfte immer wieder ausglich, bis einer sich durch eine Bewegung wieder einen Vorteil ergatterte. Innerhalb einer Übung entstanden somit immer wieder erneute „Treffen“. Der Angreifer stellte deshalb keinesfalls nur ein Mittel zum Zweck dar, sondern ein Konterpart, der uns ein wirkliches Üben überhaupt möglich machte. Hier gab es keine wichtige oder unwichtige Seite, denn zwei gleiche Kräfte trafen aufeinander und benötigten sich gegenseitig. Wer dies nicht berücksichtigte, verkannte und vergab die Vielfalt und Tiefe eines Trainings.
Es war dann ein Akzeptieren, Aufnehmen, Verbinden, Begreifen, Erfühlen, Nachgeben und schließlich eine Freude über ein bewusstes, gemeinsames Da-Seins auf der Matte an einem heißen Sommertag. Der eigene Fokus wurde unter Berücksichtigung vorhandener Impulse, Fliehkräfte und auch Widerstände schon fast automatisch auf das gemeinsame Tun gebannt.
Ein Gegner auf der Matte entwickelte sich somit zu einem Partner. Er ließ die Überlegungen und Wertigkeiten aus dem normalen Leben unter einem neuen Licht betrachten, denn …
„Egal auf welcher Ebene man sich einfühlt – ob auf der spirituellen, der körperlichen oder der psychologischen – überall wird man Gemeinsamkeiten zwischen seinem Gegner und sich selbst finden. Umso mehr man diese Gemeinsamkeiten erkennt, umso schwieriger wird es, zu akzeptieren, dass Menschen überhaupt versuchen, einander zu besiegen.“ (Terry Dobson)
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Trainer: Bodo Rödel, 6. Dan
Trainingsort: https://aikidozentrum.com/
Anm. z. Zitat von Terry Dobson: in „Aikidô – Tanz des Leben“, Lauda-Königshofen, 2007, S. 86)