Jeder war in der Lage sein Bett aufzuschütteln. Die einen waren korrekt bis in den letzten Winkel; keine Falte störte den geometrischen Gesamteindruck. Andere schoben die Kuscheldecke einfach zusammen oder klappten sie zurück. Trotz alledem besaßen die beiden Extreme der Variationslinie eine Gemeinsamkeit: Beide wussten, dass ihnen das Bett ganz alleine gehörte UND ihr Produkt war genauso, wie es ihnen am liebsten erschien, also perfekt. Käme irgendjemand auf den Gedanken, jemand anderes sei für die eigene Handhabung des Bettenmachens verantwortlich? Jeder wusste, wem das Produkt nicht gefiel, dem oblag es selbst, es zu ändern; eine völlig klare Sache!
Warum entzog sich diese gewisse Art von Sicherheit so leicht aus unserem Zugriff, wenn die Außenwelt bis vor unsere Haustür kroch und uns am Kragen packen wollte?
Aus der Kampfkunst wusste ich, dass allein schon der eigene Ausgangspunkt die halbe Miete darstellte. Entweder standen wir bis zu den Knien im Matsch oder wie festgeschraubt auf jahrtausendaltem Stein. Die Wahl des Untergrundes überließ das Leben ganz allein uns selbst. Da sich nicht jeder dazu in der Lage fühlte, kam irgendjemand auf die Idee, das festgeschriebene Regeln eine gute Sache wären. Regeln versprachen Halt, sozusagen einen Rahmen, um nicht in einem unbedarften Moment die „Fassung zu verlieren“. Sie boten einen Anhaltspunkt, um zwischen richtig und falsch zu unterscheiden, denn was dem einen sein Freud, ist des anderen sein Leid. Das Grundgesetz gehörte zum Beispiel in diese Kategorie. Es besaß Struktur und Übersicht, da gab es nichts zu deuteln.
Anders sah es mit den Gesetzen aus, denen wir uns freiwillig unterzogen oder die wir anscheinend bereits Jahrhunderte mit uns herum trugen. Plötzlich konnte es wichtig sein, was der Nachbar dachte, ob mein Vorgarten unkrautfrei blitzte oder ob meine Beine überhaupt braun genug der Welt entgegenblickten, um eine kurze Hose tragen zu können. Wir nahmen die Gedanken anderer, um uns freiwillig zu geißeln oder noch schlimmer: im Grunde nahmen wir etwas, was uns gar nicht gehörte!
Das Herumfuhrwerken im sozialen Miteinander mag eine spannende Sache sein, wenn es nicht das Problem mit sich brächte, dass die eigene Person mit jedem Testversuch von den anderen in unterschiedliche Schubladen gepackt wurde. Leider ließ sich kein Schild anbringen: „Vorsicht, ich bin noch Suchender im Sozialgefüge.“ Das gab es nur für Pubertierende, die ihre inneren Baustellen sekündlich offenbarten. Einmal über diese Grenze hinweg gelebt, wurde gnadenlos der ganze Mensch genommen und mit Haut und Haar in den Kasten gedrückt.
Natürlich konnte sich niemand von Vorurteilen gänzlich befreien, doch ich gab die Hoffnung nicht auf, dass sich der Einzelne immer mehr von den fremden Meinungsbildern distanzieren konnte, um seine eigenen Vorstellungen überhaupt wahrnehmen zu können.
Mittlerweile ergänzten die austauschenden Verbindungen zwischen den Kulturen unsere Überlegungen und die ein klein wenig verbesserte Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau veränderten die bisher eindeutigen Verhaltens-Regeln der Vergangenheit. Zudem wurden vom Mainstream abweichende Persönlichkeiten ein gewisser Spielraum zur Entfaltung gelassen. Alles zusammen geworfen, geschüttelt und wieder geöffnet, entspannte die derzeitigen Moral- und Verhaltensvorstellungen. Diese neue Version war aber nicht wirklich ein Garant für die Richtigkeit in jeder Situation; das blieb dann auszutesten.
Die Sicherheit, dass unser Tun richtig und gut ist, wächst nicht vom Himmel, wir erschaffen sie selbst. Er ist unser Fundament, das wir uns mit der Zeit erbauen. Hier dürfen wir uns komfortabel fühlen, solange kein anderes Wesen Schaden erleidet. Es ist perfekt, wie immer es aussieht. Vielleicht erinnern wir uns das nächste Mal daran, wenn wir bei geöffneten Fenster unser Bett aufschlagen.
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