Das Drehen des Windes

Wenn das Lernen lediglich im problemlosen intellektuellen Aufnehmen der einen oder anderen Sache läge, dann könnten wir alle vermutlich tausend Dinge und bräuchten keine Superhelden mehr, die die Welt retteten. Alles wäre einfach … ist es aber nicht!

Während unserer Bokken-Stunden arbeiteten wir gerade an der zweiten Serie „Ura Tachi“ der Kashima-Katas (besondere Form von Schwertübungen). Beim Stöbern im Netz las ich eines Abends darüber:

Die Ura Tachi-Übung führt hin, zu verstehen, dass die Kashima-Techniken nicht reaktiv sind, sondern verlangen, dass einer die Initiative ergreift.[1]

Ähm, was hieß das nun wieder ganz genau? In solchen Momenten wurde mir bewusst, wie sehr wir davon abhängig waren, dass Worte in einer Kommunikation irgendwie annähernd das gleiche bedeuten mussten, damit der Inhalt einer Vorstellung überhaupt beim anderen ankam.

In einem Kampf griff einer an und der andere wehrte diesen Angriff ab. Soweit so gut. Wenn jemand mit einem Schwert auf mich zukam, dann musste ich etwas tun … War es in diesem Moment nicht immer eine Reaktion, da ich etwas nach der Aktion meines Gegenübers tat? Wann war diese Erwiderung kein bloßes Verteidigen mehr, sondern ein erneuter Angriff?

Wo lag jetzt der Fehler in der Überlegung?

Seit meinen ersten Aikido-Stunden begleitete mich immer das Gefühl eines dualen Stranges zwischen dem Erlernen der Fertigkeiten im Dojo und meinem eigenen Vermögen mich in der Welt auszudrücken. Gleich einem in der Hand haltenden Bleistiftes mit integriertem Radierer-Aufsatz ließen sich Worte schreiben, aber auch korrigieren. Es war immer ein Ausprobieren, Fehler machen und neu Formulieren. In einer geschützten Enklave auf der Matte testete ich mich selbst und nahm etwas für die Welt da draußen mit. Damit dies aber geschehen konnte, wollte ich die Stolpersteine des Verständnisses lösen und nicht einfach akzeptieren. Jeder nahm sich von einer Torte, so viel er mochte und vertrug …

So rekapitulierte ich die mir bekannte Kata der zweiten Serie. Ich sah mein Gegenüber mit dem erhobenen Schwert, das mich treffen sollte, aber nicht konnte. Die Waffe sauste nicht einfach an mir vorbei, sondern ich ließ den Angreifer überhaupt nicht so weit kommen. Seine Attacke wurde unterbrochen, indem ich ihn von meiner Seite aktiv angriff.

Aber warum war es dann keine Reaktion auf das, was zuerst kam, sondern ein erneuter Angriff? Worin lag nun der Unterschied? Das Benutzen von gleichen Bezeichnungen mit verschiedenen Inhalten verwirrte mich. Irgendwie musste ich den Fokus verändern.

Natürlich war jegliche Tat nach einem Angriff eine Reaktion darauf, egal, was mir bei einem Schwertstreich einfiel. Im Normalfall versuchte der Angegriffene einfach dem Schlag zu entkommen, z. B. mit einer Bewegung zur Seite. Was passierte dann? Der Gegner würde sein Schwert nochmals heben und zuschlagen wollen.

Ließ ich aber den Angreifer überhaupt nicht seine Attacke ausführen und handelte selbst, dann bestimmte ich das weitere Vorgehen. Ich hatte die Situation im Griff und das Zepter in der Hand. Es war ein Übernehmen der Kontrolle!

Das war der springende Punkt! Jetzt fand ich auch den Zugang im Verständnis. Aus Brettspielen wie Schach kannten die Spieler die Begriffe „Vorhand“ und „Nachhand“. Der Vorhand-Spieler zwang den Gegner durch eine taktische oder strategische Entscheidung zur Reaktion und kontrollierte somit für einen Moment das weitere Vorgehen. Der Nachhand-Spieler reagierte auf diese Bedrohung, um sich selbst in Sicherheit zu bringen. Wie beim Pingpong besaß jeder einmal die eine Position oder die andere.

Ich schimpfte mit mir selbst. Warum war mir das denn nicht gleich klar? Andererseits … kam es jetzt wirklich darauf an, wann ich etwas verstand? Mit Sicherheit gab es andere, die viel, viel schneller begriffen … ja und? War dies überhaupt wichtig?

Nein, war es nicht! Vielleicht lag auch darin die wirkliche Erkenntnis …


Trainerin: Julia Wagner, 4. Dan

Trainingsort: https://aikidozentrum.com/

[1] http://aikidoschule-loerrach.de/index.php/2-uncategorised/15-unsere-tuebungen-mit-jo-und-bokken

Anm. z. Bild: gesehen im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe