Dem Auge nicht erkennbar…

Die Wand fühlte sich bröselig an. Erschrocken nahm ich meine Hand herunter. Ich wollte nicht schuld daran sein, dass etwas die Jahrtausende schaffte, um dann meiner Gegenwart zum Opfer zu fallen! Geschwungene rot-braune Linien formten sich zu Büffeln, zu Menschen und Gestirne; also im Grunde das Wesentliche auf einem Blick: Planet, Mensch und Tier; Pflanzen wären noch nett gewesen, schließlich könnten wir ohne sie nicht atmen. Doch das wusste die Menschen damals noch nicht.

Ich verschränkte meine Hände hinterm Rücken. Wie so oft hätte ich am liebsten die Linien mit den Fingern nachgezeichnet; leider war aber die Akzeptanz dazu von meiner Umwelt nicht immer gegeben. So betrachtete ich die Bilder von nah und fern und fokussierte Einzelnes aus verschiedenen Blickwinkeln und …seufzte. Wie konnte ich den Zeichner verstehen, so fern von jeglichem Verständnis seiner Zeit und seinem Leben?

War es für ein Werk überhaupt wichtig, welche Nachricht der Künstler vermitteln wollte? Ich weiß, eine fast ketzerische Frage, doch im Endeffekt kann dieser so oder so nicht beeinflussen, was der Betrachter denkt. Schließlich kam Kunst erst in uns selbst zur Entfaltung und wir machten daraus mit unseren Assoziationen ein ganz auf uns zugeschnittenes Produkt. Nichtdestotrotz empfand ich es als sehr interessant, welche Intention diesen bewegte; das Wissen darum, eröffnete nicht selten einen gänzlich neuen Zugang.

Vielleicht trugen mich meine eigenen Vorstellungen viel zu weit in eine Richtung, die gleich einer Fata Morgana das echte Wasser zeigten. Vielleicht maß ich Bedeutung zu, wo keine war…oder?

Ich schaute mich um. Der Weg hierher führte durch einige ungastliche Gänge, die in ihren Verwinklungen, Abzweigungen und Tiefen wirklich verwirren konnten. Netterweise zeigte ein Führungsseil selbst dem Defokussierten wo es lang ging. Nach Überwindung der gefühlten Enge, trat ich letztendlich in einen großen Raum, der mir im Gegensatz fast wie ein Saal vorkam. Scheinwerfer beleuchteten die alten Zeichnungen. Hier stand ich nun glücklicherweise für einige Minuten ganz allein.

Unbewusst zerrieb ich zwischen Daumen und Zeigefinger die kleinen Partikel der roten Farbe und betrachtete dabei einen übergroßen Büffel, der gerade vor seinem Jäger floh. So gut hätte ich ihn niemals zeichnen können! Auch damals hielten die Tiere vermutlich nicht gerade als Anschauungsobjekt still.

So nah wie es mir möglich war, ging ich mit meinen Augen an die Wand. Überall Einschusslöcher! Überrascht betrachtete ich Zentimeter für Zentimeter. Irgendwo in meinem Erinnern kramte ich  Schulwissen hervor: Zeichnungen nicht nur als ein Abbild, sondern als ein Doppel der Realität…ein Jagdzauber! Aufgeregt betrachtete ich die Linien unter einem anderen Aspekt:

Mit dem neuen Wort im Sinn zeigten sich in meinem Inneren Bilder aus unzähligen Märchen, Geschichten und Erzählungen: Menschen liefen in geduckter Haltung auf offener Prärie zwischen den einzelnen Bäumen und größeren Felsen herum. Sie näherten sich einer kleinen Bisonherde, die dem Wind abgewandt von der kommenden Bedrohung noch keine Ahnung besaß. Bewusst legte ich meine Hand nun doch wieder auf die Wand und holte mich zurück in die Gegenwart. Solche Szenen wollte ich mir auch nicht vorstellen. Es gab Gründe, warum ich bei den Wild-West-Filmen meiner Kindheit bereitwillig für alle anderen die Naschereien aus der Küche holte…

Begeistert wanderte mein Auge über die Wand. Es waren Symbole![1] Gleich einem Blitz in der Plasmakugel[2], der zwischen Kern und Außenhülle hin und her zuckte und fast wie magisch bei Berührung meine Finger suchte, verband ich etwas mit dem Betrachteten. Die Welt fand sozusagen ihren Weg. Bei mir traf sie auf die Erinnerung an Wild-West-Filme und meine Abneigung gegenüber dem Jagen.

Was verbanden die Menschen damals damit? Aus unserer heutigen modernen rationalen Sicht belächelte so manch einer die Vorstellung, dass das Treffen eines Abbildes irgendwelche Auswirkungen auf das Jagdglück draußen in der Prärie hätte. Eine kuriose Überlegung für die moderne Zeit. Für die damaligen Menschen gab es eine Verbindung, an der sie sich mit all ihrer Überzeugung festhielten, dessen sie sich sicher waren. Ihre Vorstellung war mit einem Außen, der Natur, verbunden und sie als Individuen gleich mit ihnen.

Andere Besucher kamen in die Höhle. Ich hatte genug gesehen und machte mich wieder auf den Rückweg. Meine Hand fuhr am Wand-Seil entlang. Ein Halt für meinen Weg. Einen kleinen Moment blieb ich stehen. Waren die damaligen Menschen wirklich primitiv im Sinne von „nicht zivilisiert“ oder nicht doch eher im Sinne von „sich in einem ursprünglichen Zustand befinden“? Sie waren verbunden! Und wir? Unser aufgeklärtes Denken akzeptierte keinen direkten aktiven Draht mit der Natur. Es nahm Abstand von dem nicht logisch Erklärbaren.

…und so scheint ein Band zerschnitten und flattert mit dem Menschen lose im Wind…

Und trotzdem! Zuversichtlich klopfte ich auf das Seil. Da musste nichts flattern, denn seit dem Kindergarten sind wir alle der Knoten und Schleifen mächtig!



[1] „Ein Wort oder Bild ist symbolisch, wenn es mehr enthält, als man auf den ersten Blick erkennen kann. Es hat dann einen weiteren <unbewussten> Aspekt, den man wohl nie ganz genau definieren kann. So gelangt der menschliche Geist bei der Erforschung von Symbolen zu Vorstellungen, die sich dem Zugriff des Verstandes entziehen.“ …

„Es gibt nichts, was der Mensch völlig durchschaut. Er ist ganz von der Anzahl und Qualität seiner Sinne abhängig, die ihm nur eine begrenzte Wahrnehmung seiner Umwelt gestatten. Diesem Mangel kann der Mensch durch wissenschaftliche Instrumente teilweise ausgleichen; aber selbst der feinste Apparat kann nicht mehr tun, als entfernte oder kleine Gegenstände in Sichtweite zu bringen oder schwache Laute hörbar zu machen. Einerlei, welche Instrumente wir benützen, irgendwo wird der Punkt erreicht, an dem jede Gewissheit aufhört.“ C.G. Jung, Zugang zum Unbewussten, in: Der Mensch und seine Symbole, Ostfildern, 2019, S. 21/22.

[2] Eine klasse Beschreibung aus dem Schulalltag:

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Anm. z. Titelbild: Photo by Martina Misar-Tummeltshammer on Unsplash