Alles für die Forschung! Noch etwas müde baute ich einen kleinen Stand inmitten einer noch nicht belebten Einkaufsstraße eines Kurortes auf. Eine große Kanne mit bereits aufgebrühtem Kaffee, eine kleine Maschine für weiteren, Milch und Zucker und mich selbst. Bevor ich anfing, gönnte ich mir einen großen Becher des heißen Gebräus in Ruhe. Ich saß auf meinem Hocker und betrachtete die Menschen, die noch an mir vorüber gingen.
Es war ein guter Ort für meine Umfrage. Die hier durchgehenden Leute zeigten sich großzügig mit dem für mich Wertvollen: Ich bekam Informationen über ihre Gedanken und hörte etwas darüber, inwieweit sie sich als ein Teil einer Gemeinschaft empfanden. Hier in einem Kurort waren die Menschen offen genug, sich auf eine Diskussion einzulassen; sie besaßen Zeit und Muße.
„Na, was wollen sie wissen?“
Überrascht fokussierte sich mein Blick auf einen älteren Herrn, der nun vor mir stand und mich prüfend betrachtete. Sein Blick fiel auf meinen Kaffee.
„Möchten sie auch einen?“, fragte ich ihn.
Er nickte. So bekam er einen dampfenden Becher und auch einen kleinen Hocker. Wir saßen inmitten der Fußgängerzone. Spazierende betrachteten uns beim Vorbeigehen und sahen zwei klönende Menschen, die sich gegenseitig zuhörten, einen zweiten Kaffee tranken, immer wieder lachten oder auch einen Moment schwiegen…ein Strom im Strom…
Er erzählte mir, dass er im Osten Deutschlands großgezogen wurde. Das Miteinander war geprägt von Manipulation und Einschränkung. Umso mehr genoss er das heutige Empfinden, von einem Zwang zum Dienste der Gesellschaft enthoben zu sein.
„Nicht, dass sie mich missverstehen“, sagte er. „Ich verbringe trotzdem viel Zeit mit Anderen, beruflich wie privat. Ich lebe trotzdem innerhalb einer Gemeinschaft, die sich gegenseitig hilft und unterstützt…“ Er hielt einen Moment inne. „Was wäre ich ohne meine Nachbarin, die in meinem Urlaub auf meine beiden Katzen aufpasst und dafür repariere ich alles Mögliche, was bei ihr so anfällt…es ist aber ganz allein meine Entscheidung. Wenn Sie möchten, eine Art von moralischer Unabhängigkeit, die ich mir zubilligen darf!“ Beim letzten Satz zwinkerte er mir zu. Ich konnte ihn gut verstehen. Er formulierte das Recht zur Selbstbestimmung und ließ trotzdem den Gedanken von Solidarität nicht außer Acht. Das war ziemlich cool.
Die Sonne wärmte immer mehr und ich winkte meinem ersten Gesprächspartner nach einer Weile noch hinterher. Das war wirklich interessant! Ich war begeistert. So schlimm konnte es nicht um uns Menschen bestellt sein. Natürlich wusste ich, dass es tausend unterschiedliche Vorstellungen von Individualität gab. Ich hatte schließlich in den letzten Tagen schon eine Menge dazu gehört, aber lebendige aktuelle Meinungen besaßen schon ihren Reiz.
Gut gelaunt, kam ich nun mit einer jungen Frau ins Gespräch und fragte sie ebenfalls, was sie unter Individualität verstünde. Sie hielt mit beiden Händen den Becher fest und pustete die hochsteigenden kleinen Verwirbelungen weg, damit der Kaffee trinkbar wurde.
„Mmmh, das ist irgendwie Freiheit. Niemand darf mir etwas verbieten. Ich möchte halt tun, was mir gefällt.“ Wer konnte das nicht verstehen! Das waren die Gründe, warum man ziemlich bald aus dem Elternhaus in seine eigene Wohnung zog. Ich bemerkte dies lachend und nickte dabei. Sie schaute mich aber weiterhin ernsthaft an.
„So meinte ich das jetzt nicht. Das was sie meinen ist doch selbstverständlich!“ Ok, ich goss mir jetzt doch erst mal einen neuen Kaffee ein. Manchmal waren andere Menschen nicht einfach. Ich sagte erst einmal gar nichts. Wahrscheinlich gehörte ich schon zur älteren Generation, die noch in völlig veralteten Mustern dachte. Also schaute ich sie erwartungsvoll an.
„Mir ist es völlig egal, was die Gesellschaft von mir denkt. Ich lebe mein Leben nach der Moral und den Ansichten, die ich mir selbst schaffe!“, fügte sie nach einem ersten Schluck Kaffee hinzu.
Bevor ich nun etwas völlig Altmodisches von mir gab, fragte ich dann doch nach, ob sie sich denn als einen Teil einer Gemeinschaft empfände.
„Sowas brauch ich nicht. Da will man mir nur erzählen, was ich alles zu tun hab. Ich mach mein Ding.“ Dazu ließ sich eigentlich nicht viel sagen. Ich bedankte mich für ihre Offenheit und wir klönten noch eine Weile bis sie sich schließlich verabschiedete.
So verging der Tag und am Nachmittag beschloss ich meinen Stand wieder abzubauen; mir brummte der Kopf von den vielen Gesprächen. Einen Moment setzte ich mich gedankenverloren auf meinen Hocker.
Ich dachte an die junge Frau, mein zweites Interview von heute. Isolierte sie sich nicht mit solchem Gedankengut? War der Mensch nicht ein soziales Wesen? Reduzierten wir uns nicht durch ein völliges Abtrennen von den Anderen? Die junge Frau glaubte sich dadurch zu schützen, aber war sie deswegen nicht auch angreifbarer? Und vor allem, welche Grenzen respektierte sie dann? Nur die eigenen, die sie von innen ausweitete und von außen minimierte? Also immer frei nach dem Motto: die anderen waren egal, Hauptsache, ich konnte mich selbst entfalten?
Ich betrachtete meine Aufzeichnungen: Die unzähligen Kreuzchen für die wichtigen Ergebnisse meiner Befragungen wuselten quer über die Seiten. Spiegelte die Wissenschaft diese bunte Gedankenwelt wirklich wider? Mit Sicherheit ließen sich Aussagen, Vermutungen und mit Daten unterfütterte Tendenzen ablesen. Keine Frage. Gleich einem Blick aufs endlos erscheinende Meer zeigten sich Wellen, Stürme und Tsunami in all ihrer Pracht und Grausamkeit. Doch sagte es etwas aus, wie es darunter aussah?
Ja, es gab viele verschiedenen Ansichten über das Thema Individualismus. Die Bandbreite war groß…es gab die beiden Extreme und es gab unheimlich viel dazwischen. Dies ließ sich alles dokumentieren. Doch fehlten in meinen Augen Parameter, die ein wirkliches Abbild überhaupt annähernd schaffen könnten. Es fehlte der eigenwillige Fisch, der unter der Oberfläche schwamm. Manchmal war er groß, fast riesig, wie ein Wal, und manchmal war er winzig klein, wie Plankton, und manchmal lag er betäubt von der Schwere des Seins am Meeresgrund.
Dieser Fisch nannte sich „Menschlichkeit“…
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Anm. z. Text:
Aus: https://www.wertesysteme.de/menschlichkeit/
Der Begriff Menschlichkeit fasst alle Bestrebungen und Handlungen von Menschen oder Gruppen zusammen, die auf ein gutes Überleben und Befinden des Menschen an sich abzielt.
So ist Menschlichkeit ein Wertesystem, das durch allgemein menschenwürdige Werte der betreffenden Kultur, aber auch durch individuelle Werte, definierte Tugenden und Ritualee (Benehmen) definiert wird.
Zur Menschlichkeit gehören in den meisten Kulturen die Werte Güte, Würde, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, Barmherzigkeit und Mitgefühl.
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Anm. z. Titelbild:
Caspar David Friedrich (1774-1840), „Wanderer über dem Nebelmeer“, gesehen in der Hamburger Kunsthalle