Ein bleiches Gesicht mit schwarzen Haaren und dunklen Augen richtete sich Zentimeter für Zentimeter hinter dem hüfthohen Grabstein auf und ich verharrte mit meinen Bewegungen einen winzigen Moment. Eben noch zupfte ich an der dramatisch wuchernden Quecke herum und mochte nicht aufblicken. Da war die absolute Sicherheit, dass ich mich in den nächsten zwei Sekunden echt erschrecken würde, wenn ich mich nicht mental darauf vorbereitete.
Ich seufzte, na gut, je eher dahin, umso eher davon…Vorsichtig ließ ich meinen Blick hochwandern…
„Ahhh, Samuel!“
Meine kleine Harke flog vor Schreck bis zum nächsten Grab und ich bekam zum tausendsten Mal die Bestätigung, dass mich Nicht-Erwartetes viel zu leicht aus der Bahn warf. Leider hatte ich nichts mehr in der Hand, was ich mit gutem Gewissen in die richtige Richtung werfen konnte. Mir war wirklich danach!
Leises Kichern bezeugte die Zufriedenheit meines Gegenübers, der mir kurz zuzwinkerte und wieder in den hinteren Büschen verschwand. Samuel kannte ich bereits, als er die erste Scheibe beim Fußball-Spielen einschmiss, die Schaukeln am Spielplatz mit Kabelbindern zusammenband und aus meinem Auto im Winter ein Iglu baute. Er war ein ehrlicher Chaot; das Erstere beruhigte mich und das Zweite befreite mich immer wieder von meinem eventuell ansetzenden Kalk in meinen Adern. Nun fast erwachsen trieb er sich oft mit seinen Gothic[1]-Freunden auf dem Friedhofsgelände herum und zelebrierte ein Anderssein vom Mainstream auf friedfertige Art und Weise.
Seitdem er aber mit einer angehenden Maskenbildnerin zusammen war, bekam seine Anwesenheit immer einen leicht aufregenden Touch. Ich sammelte mir meine Harke wieder ein und musste lachen. Im Dämmerlicht sah er wirklich authentisch aus! Zufrieden betrachtete ich schließlich meine bisherige Arbeit, packte die Gerätschaften in meinen Rucksack und ging zur gegenüberliegenden kleinen weißen Marmorbank. Irgendwann besorgte jemand während der vorletzten Jahrhundertwende dies kleine Schmuckstück für seine Angehörigen, um ihnen einen komfortablen Platz der Besinnung zu schaffen; das war ihm oder ihr gelungen.
Ich horchte in die erhellte Nacht hinaus und schaute in den Himmel. Tiefer Frieden lag um mich herum und umschloss mich mit einladender Geste. Es war der Vollmond, der auf mich herunter schien. Er schenkte Licht und Schatten, Helles und Dunkles, Altes und Neues wie schon seit ewigen Zeiten, an unendlichen Orten. Ich besaß keinerlei Bedenken hier zu sein; einen Friedhof empfand ich als einen Zufluchtsort für die, die einen geliebten Menschen verloren. Die Seelen verweilten hier nicht, es waren zurück gelassene Stofflichkeiten, die nur noch die Erinnerung in sich trugen. Das brauchte nicht beunruhigen.
Die hinteren Parklichter leuchteten bereits, um ein Fast-Dunkel zu vertreiben; hier an meinem Platz erkannte ich noch den hellen Kies des Weges und schemenhafte Grabsteine, genug zur Orientierung. Es war Zeit, um nach Hause zu gehen. Die kleinen Steine knirschten unter meinen Füßen. Für einen Moment blieb ich stehen und horchte in die Nacht. Zu der Ruhe gesellte sich ein Ich-weiß-nicht-was. Wenn ich am Tage hier im alten Teil des Friedhofes längs ging, dann bewunderte ich all dies Alte, die Bepflanzungen und Inschriften. Kaum war alles in ein Dunkel gehüllt, schon veränderte sich etwas in mir. Eine verhaltene Skepsis, dem Nicht-wirklich-sehen gegenüber kratzte ein klein wenig an meinem Empfindungen. Ich schüttelte den Kopf. Ich sollte mir eher Gedanken machen, ob ich auf dem Weg blieb oder nicht, denn keine zwanzig Schritt weiter träfe ich mit Sicherheit Samuels Truppe. Wirklich nette Leute, aber ich war müde vom Tag…
Ach was soll‘s! Ist ja auch interessant zu sehen, mit welchen Außergewöhnlichem heute gepunktet wurde. Eine leise Stimme las gerade vor. Ich horchte…Edgar Allan Poe! Oha, das passte hier immer. Ich winkte kurz und stellte mich etwas neugierig hinter die im Kreise auf dem Boden sitzenden Gestalten. Mittig brannte eine Laterne…

Die Jugendlichen um mich herum hingen fast gebannt an den Lippen des Vorlesers:
„…Und Du hast es nicht gesehen?“, fragte er unvermittelt, nachdem er einige Augenblicke schweigend um sich in die Runde gestarrt hatte – „Du hast es also noch nicht gesehen? – Aber warte nur! Gleich-„ Mit diesen Worten hastete er, nicht ohne zuvor sorglich seine Lampe abgedunkelt zu haben, an eines der Fenster, und stieß die Flügel auf, mitten in den Sturm hinein-:…[2]
Irgendwie schön, das war mal was anderes als Computer & Co. Ich betrachtete die Frisuren und ausgefallenen Kleidungsstücke. Nun gut, der alte Knigge hätte zu der kuriosen Aufmachung hier eine eindeutige Meinung. In seinem Büchlein gab es nur ein Richtig oder Falsch, ein Schwarz oder Weiß, ein Ja oder Nein. Mit solchen Anweisungen in der Tasche war die Menschheit fast gerettet und konnte sich benehmen; niemand zog dann missbilligend eine Augenbraue hoch oder ignorierte einen, als stünde die eigene Wenigkeit als Deko-Produkt im Raum. Es waren Regeln, die Gruppen übernahmen. Genau wie hier: Die Zuhörer fügten sich den gemeinsamen Vorstellungen: die dunkle Kleidung passte zur Nacht, zum Mond und zu ihren Gedanken…So besaß ein Gothic ziemlich viele Überschneidungen mit einem Konservativen, doch beiden durfte dies nicht gesagt werden…es hätte sie verstimmt.
Trotz meiner Müdigkeit fing mich der Text ein. Mich fröstelte als die letzten Worte verklungen waren. Ehrlich gesagt, wusste ich nicht, ob es die Kühle der Nacht war oder meine durch den gehörten Text entstandenen Bilder im Kopf…
Ich verabschiedete mich von Samuel und meinte dann fast schon im Gehen, er solle mich nicht immer so erschrecken; beinahe hätte jemand heute meine Harke abbekommen!
Er drehte sich zu mir um: „Nee, das war ich nicht. Wir kamen gemeinsam beim Süd-Eingang rein-…heute gab‘s keine Extra-Vorstellung!“ Er zwinkerte mir mit den Augen zu und ging fröhlich seines Weges.
Mit offenem Mund starrte ich ihm hinterher…

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Anm. z. d. Bildern:
Titel-Photo by Ganapathy Kumar on Unsplash,
Die Laterne: Photo by Matheus Kohler on Unsplash
Schluss-Bild: Photo by Casey Horner on Unsplash
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Anm. z. Text: E.A. Poe „malte“ die Resonanz zwischen Mensch und Raum mit seinen Worten. Das gegenseitige Spiegeln zwischen ein Außen und Innen war dem Menschen wichtig. Kleideten wir uns nicht festlich, wenn wir zur Oper gingen? Oder tauschte ich nicht mein Kostüm mit einer bequemen Hose, um im Garten zu arbeiten? Erwarteten wir nicht Besonderes, wenn es unsere Umgebung vorgab? Wir dachten uns aufgrund eines Ortes etwas und sobald es in unser vorgestelltes Bild passte, konnte es nicht anders sein…
[1] Jugendkultur im Rahmen der Post-Punk- und Dark-Wave-Bewegung.
[2] Edgar Allan Poe, Band 2, Der Fall des Hauses Ascher, Debrecen, 1980, S. 657.