Die Kunst des Nicht-Tuns

Erkältungen sind die Pest! Gefühlt bin ich hundert Jahre drum herum gekommen und war mittlerweile schon davon überzeugt, dass es mich überhaupt nicht mehr ereilen könnte…absoluter Fehlschluss! Vielleicht war die Klimaanlage im Flugzeug vom letzten Wochenende schuld oder der Temperaturwechsel und damit die einhergehende Fehleinschätzung der notwendigen Kleidung oder ich war einfach mal wieder dran. Wer wusste das schon!

Obwohl mich die Taschentuch-Box ständig begleiten musste, pusselte ich genauso herum wie sonst. Ich benahm mich, als wäre alles im Normalbereich und ignorierte erst einmal den Schnupfen, das Hüsteln, das bisschen Temperatur…schließlich wollte ich aktiv sein, wollte mittenmang herumwirbeln, wollte einfach tun…während ich etwas verstimmt einen beginnenden Kopfschmerz bemerkte, schaute ich auf meinen Terminkalender. Na gut, Sport würde ich wohl in den nächsten Tagen streichen müssen. Seufzend packte ich meine Sporttasche wieder in den Schrank; sie stand eigentlich schon für heute Abend fertig gepackt im Flur.

Mit meinem mittlerweile wolkigen Kopf goss ich mir eine Kanne Erkältungstee auf. Der Duft von Eukalyptus und Orange schaffte es sogar in meine Wahrnehmung. Durch die Glaskanne sah ich die Luftblasen des kochenden Wassers, ich sah die Kräuter, die sich mit ihnen drehten und ich sah den aufsteigenden Wasserdampf, der meinen den Kocher haltenden Arm nass werden ließ. Ich stellte den Behälter ab und sah von oben auf den wirkenden Tee, der immer noch etwas seine wirbeligen Bahnen zog. Ich schaute und schaute…meine Gedanken folgten den Spiralen und nichts anderes schien mehr Raum in meinem Kopf zu besitzen; überhaupt nichts: kein Alltag, keine Verstimmung über die Erkältung, keine notwendige Organisation, deren Handhabung ich bedenken könnte und kein Vorher oder Nachher. Im Grunde war dies ein Nichts und dann doch ein Alles.

Wie ungewohnt sich dieses Gefühl hineinschlich! Ich kannte es, genoss es und trotzdem nahm ich mir dafür so selten die Zeit. In einem Geschäftshaushalt groß geworden, lag ständiges Handeln fast in meiner zweiten Natur. Es war für mich eine Art aktives Leben: Dinge bekamen ihre Ordnung, Neues entstand oder Andere konnten mit meiner Hilfe ihre Angelegenheiten weiter führen. Ich kam mir manchmal wie ein beschäftigter Schrankenwärter vor, der dem Fluss des Lebens mal diese und mal jene Richtung gab.

Doch war ein Handeln nicht wie das Säen auf dem Feld? Gab es nicht einen Teil, der getan werden musste und einen Teil, der von sich aus entstand? Das eine war von dem anderen abhängig, um zu einem Ergebnis zu gelangen. Wenn Alles in dieser Welt miteinander verflochten war, dann galt jedes zu findende Prinzip auch für Alles und Jeden; auch für mich!

Ich starrte weiter in meinem Tee. Obwohl ich nichts tat, war ich beschäftigt. Ich ließ den Dingen ihren Lauf und auf seltsame Weise fügte ich mich selbst damit hinein. Ein inneres Wohlgefühl breitete sich aus, als puste ich verblühten Löwenzahn in den aufkommenden Sommerwind. Viel zu selten überließ ich dem Äußeren die Welt…

Der Tee! Fast stechender Eukalyptus-Geruch durchzog die Küche…naja, die Welt neigte manchmal ein klein wenig zu Übertreibungen…

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Anm. z. Titelbild: Photo by Yury Orlov on Unsplash

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Anm. z. Titel: „Wu Wei“, ein daoistisches Prinzip, „Handeln durch Nicht-Handeln“, dem natürlichen Lauf der Dinge folgen und den Potentialen die Möglichkeit zu geben, sich zu entfalten. Es ist kein Nichtstun, das wir als Passivität empfinden!

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Anm. zum Text: Mathieu Ricard schrieb:

Unsere Wesenszüge bleiben solange bestehen, wie wir nichts tun, um sie zu verbessern und solange wir unsere Neigungen und Automatismen beibehalten und mit der Zeit vielleicht sogar noch verstärken. Es ist jedoch ein Irrtum anzunehmen, sie seien ein für allemal festgeschrieben. Wir sind ständig darum bemüht, die äußeren Bedingungen unseres Lebens zu verbessern, und letztendlich ist es unser Geist, der die Welt erlebt und der diese Wahrnehmung in Wohlbefinden oder Leid übersetzt. Wenn wir nun die Art, wie wir die Dinge begreifen, verändern, werden wir damit automatisch unsere Lebensqualität verbessern. Dieser Wandel ist möglich.

Aus: Matthieu Ricard: Allumfassende Nächstenliebe; Altruismus – die Antwort auf die Herausforderung der Zeit. Hamburg, 2016, S. 260.