Völlig gebannt verfolgten wir kniend am Rande die Vorführung der kommenden Aufgabe. Unser französischer Lehrer zog die Spiralen mit seinem Schwert über die Matte. Ich hätte sie sehen können, wenn er nicht so ungemein schnell gewesen wäre. Er verband elegante Bewegungen mit einer rasanten Treffsicherheit, die uns Zuschauer fast atemlos machte. Seine Angreiferin wusste nicht, wie ihr geschah, als das gegnerische Schwert auf ihrem Anzug Spuren nachzeichnete.
Die Führung des Schwertes offenbarte viel. Sie erzählte, aus welchem „Holz“ der Kämpfende geschnitzt war, ohne Worte zu benutzen. Obwohl die Handhabung immer eine eigene Signatur besaß, zeigte sich bei den erfahrenden Lehrern etwas Gemeinsames: Allen lag eine absolute Klarheit zugrunde, als hinterließen sie einen ganz neuen Fußabdruck im nassen Sand des Südsee-Strandes unter blauen Himmel. Das war Schönheit in ihrer unglaublichen Art …
Mit der beeindruckenden Vorgabe begann nun das eigene Ausprobieren. Die Entfernung zum Trainingspartner sollte diesmal keinem direkten Gegenüberstehen auf Schwertlänge entsprechen, sondern einer guten Zwölf-Schritt-Distanz:
Mit dem rechten Fuß vorn und im Tiefstand, fühlte ich mich fest im Boden verankert. Mein Bokken steckte mit der Schneide nach oben an meiner linken Seite im Gürtel. Der Griff ragte dabei soweit heraus, dass ich meine linke Hand bequem genau vor meinen Bauch darauf legen konnte.
Es war ein unwirkliches Gefühl des Momentes. Alles in mir ruhte, alles in mir war gespannt und alles in mir wusste, dass mein Gegenüber trotz der Entfernung auf die minimale Bewegung meiner linken Hand wartete. Wenn diese die Schneide ein klein wenig drehte, dann erkannte mein Angreifer, dass meine rechte Hand das Schwert ziehen würde.
Sobald dieser winzige Moment überschritten war, verließen wir Kämpfenden unseren Startpunkt. Die Schritte befanden sich auf beiden Seiten durch den gemeinsamen Beginn in einem Gleichklang, als stünden wir auf ein und demselben Gleis; es gab nun kein Umrunden, kein Ausweichen, kein Vermeiden mehr; es gab nur noch ein Direkt.
Mein Angreifer hob sein Schwert. Nun waren wir nur noch gut acht Schritte auseinander. Beim Kampf war das keine nennenswerte Entfernung, sie wäre schneller als in einem Augenblick überwunden. Ohne noch darüber nachzudenken, veränderten sich meine Schrittlängen mit dem Näherkommen meines Gegenübers, um rechtzeitig einen für mich passenden Rahmen für die nächste Bewegung zu finden. Ich bräuchte gleich genug Raum, aber auch genug Nähe und das alles in der Schnelligkeit des Aufeinander-Zustürmens.
In meinen Gedanken nahm ich ganz unbewusst meine nächste Bewegung voraus. Wenn es nur ein lineares Vor oder Zurück gab, dann brachten mein Innerstes meinen Körper bereits zu dem, was ich tun wollte; es schenkte mir eine wertvolle Sekunde für einen Vorteil. So zog ich mein Schwert auf diesem gedachten Gleis und kippte es nach vorn, sodass es automatisch unterhalb des erhobenen Schwertes meines Gegenübers noch Raum finden konnte. Doch gleichzeitig verließ es an dieser Stelle die Gerade, um schließlich mit einem Ausfallschritt nach rechts aus der Linie heraus einen queren Schnitt setzen zu können. Wenn genau in diesem Moment das Holz des Bokkens auf den Gi meines Partners auftraf und einmal quer entlang fuhr, dann konnte dies jeder hören.
Der Klang war der Nachhall meiner perfekten Nähe. Wie Reispapier legte sich der Schall zwischen uns, nahm mit seiner rauen Oberfläche den Impuls meines Gegenübers auf, verband ihn mit dem meinigen und entließ sie beide mit meiner Bewegung zur Seite.
Nähe und Ferne gaben für einen Moment ihren Kontrast auf …
… Harmonie.
Trainer: Pascal Guillemin, 6. Dan auf einem Wochenend-Seminar in Hamburg
Gastgeber: https://aikidozentrum.com/
Anm. z. Text:
Beim Aikido gab es formulierte Prinzipien und Elemente, die die Tiefen dieser Kampfkunst einen Rahmen gaben; das eigene Erforschen dieser Phänomene half dem Aikidoka das Geschehen auf der Matte zu verstehen. Natürlich ließ sich die reine Technikausführung erlernen, ohne weitere Überlegung und ohne irgendwelche weiterführenden Philosophien. Es blieb schließlich jedem selbst überlassen, ob er eine Schokolade anschauen möchte, oder ob er den Mut besitzt, sie auch zu probieren …
So gab es „Ma-ai“. Es bezeichnete im Allgemeinen den korrekten und notwendigen Abstand bei der Durchführung von Techniken, sei es mit der Hand, dem Körper, mit Schwert oder Stab zwischen Angreifer und Technikausführenden.
Ma-ai ist eine große Aufgabe, da es im Grunde überhaupt nicht ohne dessen Berücksichtigung ging. So kann eine Technik im Stehen mit einem ganz bestimmten Abstand ausgeführt werden, aber sobald sich zum Beispiel der Ausführende kniend auf dem Boden befand, dann bedurfte es wesentlich mehr Spielraum, um sich selbst nicht im Wege zu sein. Wie leicht wurden die Arme angewinkelt, wie leicht blieb das Bein stehen und wie leicht fehlte es einfach an einer korrekten Distanz. Das war die Perspektive von außen.
Die andere Seite sprach davon, wie nah wir andere an uns herankommen lassen. Brauchten wir einen Abstand, der einem Sonnenstrahl ähnelt, der durch die Ritzen eines Paravents schien und deutliche Spuren auf dem Boden hinterließ? Oder brauchten wir einen Abstand, der die Welt auf Distanz hielt, damit sie uns nicht ergriff und dadurch verändern konnte?
Die Antwort fand jeder für sich selbst …
Beginnend, mit dem Sehen der Spiralen auf der Matte, zog mich die Beschreibung in den Raum – bis zum Geräusch des Bokken auf dem Gi des Partners. Sehr schön!
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Vielen, vielen Dank! Ich freue mich 😀
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