Das Surren im Spiegel des Sees

Niemand brauchte es wissen; niemand brauchte sich Sorgen machen und niemand würde mich sehen! Außerdem tat ich ja nichts Schlimmes, ich tat es nur ein klein wenig anders; also nicht für mich, sondern für andere…und ich besaß ein paar Gründe, die ich locker herunterspulen konnte, wenn mich doch jemand fragte…

Wer jemals „Über den Dächern von Nizza“ gesehen hatte und ein Bild der Hauptdarstellerin vor seinem inneren Auge herauf beschwören konnte, der wusste, wie ich im Moment gekleidet war: natürlich schwarz, denn niemand sollte mich sehen; bequem, denn ich musste mich bewegen können und hoffentlich warm genug, denn der Kalender sagte „Frühling“, erinnerte sich aber noch viel zu sehr an die dunkle Jahreszeit. Dafür war mir Fortuna ein wenig gesonnen. Die runde Scheibe des nächtlichen Himmelsgestirns schwebte mit genug Platz über mein Tun und begleitete mich auf ihre mattscheinende Art der Anwesenheit. So konnte nicht wirklich jemand erkennen, dass ich mit Streifschutz[1] am Oberkörper, Armschutz über meinen linken Ober- und Unterarm und Köcher an der Seite aussah, als sei ich lebendig aus einen der Marvel-Filmen entstiegen..

Jeder findet seine eigene Art und Weise sich den Aufgaben zu stellen und vor allem an diesen zu wachsen. Egal was ich tat, besaß seinen Einfluss auf mich und meine Seele, also wollte ich es richtig tun…

Ich liebte das Gelände. Hier kannte ich bereits jeden Stein, jede hervorstehende Wurzel und hätte ohne Weiteres eine Liste anlegen können, welche Tiere derzeit dies Areal als ihr Zuhause wählten. Verwunschen, sich selbst und den Jahreszeiten überlassen, nannte ich diesen Teil des Naturschutzgebietes schon seit Jahren mein eigen; leider nur im übertragenden Sinne, aber von Empfindungen konnte mich ja keiner abhalten. Da es keine angelegten Wege gab, sah ich hier selten Spuren von anderen Menschen, was für meine Belange genau das Richtige war.

Bogenschießen besaß seinen eigenen Reiz. Manchmal fuhr ich mit der Hand nur über meinen Langbogen; er war glatt, schlicht und gefüllt mit der Spannung unzähliger Trainingsstunden. Sobald ich ihn aufzog wurde er ein Teil von mir, als setze sich ein guter Freund neben mich, um bei mir zu sein. Er half mir meine innere Stärke zu finden; ein mühsamer Weg, ein spannender Weg und ein Weg mit vielen Windungen und Stolpersteinen, aber auch ein Weg mit Hinfallen und immer wieder Aufstehen. Mein Vorhaben bedurfte eine gewisse Wachheit, ein Fokussiert-Sein, das ich schulen wollte.

Die alte Eule sah mich. Das Glitzern ihrer Augen im Mondlicht fing meine Bewegungen ein und schickte sie mit ihrem typischen Laut über die glatte Fläche des nun vor mir liegenden Sees, dessen Ende ich nur schemenhaft erkennen konnte. Ein flacher Teil des Wassers bewegte sich leise vor mir. An der Seite lagen zwei umgestürzte Bäume des dicht stehenden Mischwaldes. Die Stämme waren eine perfekte Sitz- und Ablagefläche. Zwischen Baum und See präsentierten sich 13 Schritte lang ebener Boden; genug Raum für einen guten Stand, um mein Ziel anzuvisieren. Bei Tageslicht suchte ich nach guten Untergrund und fand ihn 90° Grad vom vorderen schräg liegenden Stamm und sieben Fuß davon entfernt. Wahrscheinlich hätte ich diesen Punkt mittlerweile blind finden können, was nun im Fast-Dunkel auch notwendig war. Doch gute Vorbereitung war ein Teil der Aufgabe.

In einem genauen Abstand von 43 Metern befanden sich auf der anderen Seite die weiteren Ausläufer des Waldes. Eine, der wohl in den ersten Tagen des Naturschutzgebietes gewachsenen, Eiche hielt zwischen der unteren Gabelung ein von mir eingeklemmtes schlichtes Holzbrett mit eingebrannten Ringen. Ich konnte es nicht sehen, ich konnte es nur erahnen. Selbstverständlich überprüfte ich es gestern Abend, damit mein Ziel auch ein Ziel war. Wie leicht konnten unglückliche Wetterverhältnisse dies verschieben.

Mein Puls ging schnell; jedes Mal brauchte ich eine Weile, um die notwendige Ruhe in mir selbst zu finden. Andere Bogenschützen wählten den Weg des mentalen Trainings, indem sie vor dem Einschlafen den gedanklichen Schuss immer und immer wieder im Geiste verfolgten. Meine Versuche in diese Richtung frustrierten mich. Jedes Mal schlief ich nach dem dritten Bogengang ein. Das Verfolgen des Pfeils beruhigte mich bis ins tiefste Mark, doch die davon erhoffte innere Schulung war mir dadurch überhaupt nicht möglich. Da mir als Bogenschützin durch die Jahre eine positive Grundhaltung antrainiert war, suchte ich etwas länger nach einem anderen Weg der mentalen Schulung. Gut, im Auge des Betrachters war mein Nacht-Schießen dann doch eher eine praktische Angelegenheit, aber durch die fehlende Sicht erhoffte ich mir das Trainieren eines anderen Sehens, das dann meinen Tag-Schuss verbessern sollte.

Auf alle Fälle besaß meine wöchentliche Aktion einen immensen Spaßfaktor und ich lernte eine Menge, auch wenn ich am folgenden Tag oft aus müden Augen blickte.

Mein Stand war perfekt: Ich fühlte durch die Turnschuhe die kleine Mulde am Boden links von meinem Fuß. Zehn Pfeile gönnte ich mir in solch einer Nacht. Ich nahm auch nicht mehr mit, sonst stünde ich hier bis meine Arme versagten. In der Begrenzung erhöhte sich der einzelne Schuss in seiner Wertigkeit ungemein; vielleicht war es auch eine Frage der Disziplin und auch der Bewusstwerdung. Mit begrenzt verfügbaren Pfeilen schoss ich nicht nur einfach, sondern übte mich wirklich und wahrhaftig innerhalb meines Vorhabens. Bogenschießen war die Kunst des Identischen: nur die gleiche Haltung, der gleiche Griff in den Bogen und auf die Sehne, das gleiche Ausziehen und Ankern, meine gleiche bewusste Rückenspannung und letztendlich das gleiche Lösen verschaffte gleiche Treffer.

Die genaue Kenntnis über das eigene „wirkliche“ Tun, entwickelte sich schließlich zu  meiner nächtlichen Aufgabe. Das fehlende Augenlicht ließ meinen Blick eher in mich selbst sinken und nur noch hören und wahrnehmen.

10 Schuss! Das Ergebnis würde ich erst morgen früh sehen können, doch das war nicht schlimm.

Bedächtig zog ich den ersten Pfeil aus dem Köcher. Die Eule saß immer noch schräg gegenüber auf ihrem Baum. Einen Moment lang klemmte ich mir den Schaft unter den Arm und klatschte laut in die Hände. Kein Tier sollte sich in meiner Nähe befinden. Ich würde es mir nicht verzeihen, wenn ich einem neugierigen Nachtwesen das Leben nähme. Ein Flattern und Rascheln verriet mir so einige Zuschauer. Gut, die Bahn war nun frei.

Automatisch tastete ich noch einmal über meinen Pfeil…Spitze, Schaft, Befiederung und schließlich Nocke; alles war dran. Meinen Griff in den Bogen nahm ich überhaupt nicht mehr wahr, da meine Aufmerksamkeit bereits in der Aufspannung lag. Die Sehne gab ihren eigenen leisen Ton von sich als ich sie bis zu meinem Mund spannte und leicht einatmete. Für mich war es der Ton der Vorfreude zwischen ihr und mir. Meine Zughand fixierte sich förmlich an meinen Kieferknochen und mein Ellenbogen lag nun in einer gedachten Linie mit meinem angelegten Pfeil. Jeder einzelne Muskel in meinem Rücken meldete sein OK und die richtige Position. Alles wartete in mir, schien fokussiert. Mein bewusstes Ausatmen führte die Kraft aus dem Arm in die unteren Rückenmuskeln, entspannte sie leicht, aber beließ meine Aufmerksamkeit in vollen Maße genau dort.

Wenn die Gedanken einen Ort hatten, an dem sie sich festhalten konnten, dann gab es keinen Raum für störende Überlegungen aus der Außenwelt, denn das Nichts brauchte diesen Winkel. Nicht einmal mein Ziel war noch wichtig; der Pfeil würde trotzdem in meinen Ringen landen, na jedenfalls fast alle.

Das leise Surren meines Pfeiles durchzog die Nacht. Trotzdem blieb ich in meiner Haltung, als läge er noch im Bogen; es war eine Form von Genuss, eine Form von Leben diesen einen Moment mit allen Sinnen noch nachspüren zu können.

Langsam senkte ich meine Arme; Wärme durchzog meinen Körper von der Mitte meines Zentrums bis hin zum kleinsten Finger…

…ich war da.

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[1] Wenn beim Abschuss die Sehne die Hand verlässt, dann schlägt sie stark nach links und rechts aus. Dadurch kommt sie an den Oberkörper, was man manchmal überhaupt nicht merkt, aber doch noch eine Rückwirkung auf den Schuss haben kann und zudem sich evtl. in der Kleidung verfängt.


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