Alter Schwede! Erschrocken durchzuckte mich meine Überraschung wie ein Stromschlag und ließ den übrig gebliebenen Holzstiel des leckeren Schokoeises durch die Luft fliegen. Akkurat klebte er nun voller Überzeug an der kleinen am Boden aufgestellten Erklärungs-Tafel. Ahhh! Ich war im Museum! Das ging gar nicht! Mit einem Sprung entfernte ich schnell meine Spuren, verpackte es sicher in meinen kleinen Rucksack und starrte nach oben.
Wie ein kleines Mädchen stand ich davor, schaute und wurde meinerseits angeschaut. Einfach unglaublich! Irgendwann und irgendwo entstanden diese Gebilde von Menschen-Hand. Trotzdem erhielt sich die Wirkung über die Jahre wie bei einem guten Gewürz und gab etwas aktiv an den Betrachter weiter, an mich…
Beklemmend, Perspektiv-festlegend, einschüchternd, aber irgendwie…langsam legte sich meine Überraschung und ließ Übriges hindurch schimmern…die Haltung, Mimik, die Zeichnungen auf dem Äußeren, alles schien auch noch etwas anderes sagen zu wollen. Ich fühlte mich, als stünde ich vor einem Brief, den ich noch nicht lesen konnte. Neugierig schaute ich auf die Tafel…es gab keine Erklärung! Ich stand vor verloren gegangenem Wissen der Geschichte! Überrascht schaute ich nochmals nachdenklich hoch. Gut, ich musste nochmals zurück in den letzten Raum.
Vor keinen fünf Minuten betrachtete ich die ersten Exponate lang vergangener Südsee-Expeditionen mit unzähligen Bildern und einer interaktiven Aufgabe für den Besucher des Museums. An der einen Seite des Raumes standen große, auf Leinwand gezogene, Schwarz-Weiß-Fotos. Der Betrachter wurde mit einem Hinweis an der Wand zur Veränderung in der Wand-Dekoration aufgefordert. Ich sollte das Bild hängen, das mir am meisten gefiel. Ungewöhnlich, aber reizvoll…wann durfte ein Besucher aktiv in einem Museum etwas verändern, geschweige anfassen?
Ich sah wunderschöne Strände, Palmen und Wasser überall, vermutlich in einem Blau-Grün, das wir alle so mögen. Ich sah auf den Bildern aber auch, was Menschen anderen Menschen antaten; wie manche sich anderen gegenüber erhoben und ihnen ihren Besitz nahmen. Einerseits schien das Außergewöhnliche, das den damaligen Tagen so innewohnte, aus jedem der einzelnen Bilder zu sprechen: Stolz, Aufregung, unglaubliches Staunen und immer wieder ein Überwältigt-Sein von dem Vorgefundenen. Eine konservierte Entdecker-Euphorie schlängelte sich in mein Bewusstsein. Sie war aber nicht allein…ein bitterer Nachgeschmack gesellte sich hinzu und haftete selbstbewusst an der Thematik. Es entstand ein Kontrast, der in dem scheinbar leeren Zwischenraum den Betrachter zur gedanklichen Bewegung aufforderte. Das klappte ziemlich gut.
So entschied ich mich für ein Bild mit Strand, Palmen und Wasser. Ich wollte keine Menschen auf dem Bild; Schönes sollte schön bleiben.
Nun stand ich wieder vor dem von mir soeben gehängten Bild. Das war immer noch schön…
Ich erinnerte mich an den Kommentar von Karl Federn über Ralph Waldo Emerson, den ich vorhin in der Bahn gelesen hatte:
„Was können andere Menschen überhaupt für uns sein? – Er (Emerson) geht davon aus, dass die soziale, die gesellige Existenz uns das Leben in materieller und geistiger Beziehung erleichtert: in geistiger, weil wir durch andere erst zur Klarheit über uns selbst und unsere eigenen Gedanken kommen, weil sie eben so viele <Linsen sind, durch die wir die Welt schauen>…“
Mein Blick fiel auf all die anderen Bilder; auf ähnliche Bilder, die aber auch die dort lebenden Menschen zeigte: Ur-Einwohner und „Entdecker“. Begangen meine Überlegungen nicht erst in dem Moment, als ich die Richtigkeit der Anwesenheit von Menschen, in Frage stellte?
Einen kleinen Moment überlegte ich und nahm das aufgehängte Bild wieder ab.
„Ok, so ist es vielleicht richtiger.“, murmelte ich nun und betrachtete das neu aufgehängte Bild mit ein wenig Abstand.
War der Mensch nicht ein Teil der Natur? Genauso ein Teil wie Tier und Pflanze? Schlicht und einfach ein Lebewesen, das unsere Erde beherbergte, aber wie alles anderes in seiner Entwicklung Zeit brauchte? Wer weiß, vielleicht wunderte sich ein Mensch in hundert Jahren genauso über mein heutiges Tun?
Wenn ich wirklich an ein gleichberechtigtes Dasein zwischen allen Lebewesen glaubte und das tat ich, dann gehörten wir ins Bild, im wahrsten Sinne des Wortes!
Zufrieden drehte ich mich um und ging wieder in die große Halle mit den Figuren. Ich betrachtete sie nochmals. Es war eine weibliche und eine männliche mit viel zu kurzen Gliedmaßen, aber riesigen Köpfen; waren dies nicht Hinweise für eine Deutung?
___
Anm. z. Titelbild: Figuren für Maskentänze, Gruppe der Baining, Neubritannien, heute Staatsgebiet von Papua-Neuguinea, von einer Südsee-Expedition, gesehen im MARKK: https://markk-hamburg.de/
Die Bedeutung der Figuren ist nicht geklärt. Das Herstellen der Figuren wurde schon lange aufgegeben und das Wissen ging verloren, bevor es aufgezeichnet werden konnte.