Der Salamander-Mann

Die Wärme meines Bettes hielt mich noch gefangen. Durch die geschlossenen Augen nahm ich den Sonnenschein wahr, der durch mein Fenster fiel. Irgendetwas weckte mich. Töne! Keine Radiomusik, kein „Bescheid-sagen“ einer der diversen Haushaltsgeräte und auch kein schläfriges Gähnen meines Hundes. Ohne mich zu bewegen, versuchte ich es zu erfassen…ein Windspiel von draußen? Das konnte nicht sein, mein Fenster schloss ich mitten in der Nacht, da anscheinend die tausend Mücken vom Fluss, unbedingt bei mir vorbei schauen wollten.

Oder hörte ich etwas innerhalb der Hütte, was nicht richtig war? Der Gedanke ließ mich abrupt die Augen öffnen. Zurückgezogen in einem kleinen Dorf im äußersten Süden Deutschlands wohnte ich für 10 Tage sozusagen in der Enklave mit tausend Büchern, Wanderstiefeln, Schreibblock und einen Hund, der wie ein Vater auf seine Tochter aufpasste. Gestern knurrte er den Milchlieferanten an, weil er es wagte als Unbekannter mir die Hand zu geben.

Mein Gehör war nicht schlecht, doch manchmal etwas zu genau, wie ein strenger Oberlehrer, der mich mit irgendwelchen Gleichungen nicht in Ruhe ließ. Musste ich wirklich wissen, wo sich die Schallwellen einer Alarmanlage herum tummelten oder wie sich die Tauben im Bahnhof fühlten, nämlich sehr lärmbelästigt? Nicht wirklich, doch für Gefahrensituation war es nicht schlecht…mit einem Sprung stand ich auf dem kalten, knarzenden Eichenboden und horchte in die Hütte. Hier war niemand! Alles gut…

Da! Meine Bewegungen gefroren. Da war doch etwas! …eindeutig draußen! Erleichtert atmete ich weiter. Trotzdem wollte ich wissen, was es war! Keine fünf Minuten später ging es in Jeans, Pulli und Stiefel eingemummelt in die frühe Morgensonne. Chapper war begeistert, so schnell bekam er mich normalerweise nicht vor die Tür. Es kam eindeutig vom Fluss. Bis zum Wasser gab es nur ein paar kleine Hügelwindungen zu umrunden und eine Mini-Treppe über einen Zaun zu bewältigen.

Ein merkwürdiges Geräusch! Ich hätte schwören können, jemand ziehe mit dem nassen Finger über Gläserränder, um ihnen einen schwingenden Ton zu entlocken. Wer hatte nicht schon als Kind versucht, damit bekannte Lieder nachzuspielen. Es war ähnlich, aber viel voller und teilweise unheimlich tief, als wäre der Resonanzboden um vieles größer.

Ohne darüber nachzudenken, ging ich direkt zu  meinem Lieblingsplatz der letzten Tage: Mehrere Findlinge stapelten sich dort in kurioser Schichtung, so dass ich zum Entspannen und Sonnen mich dort immer wieder gern hinlegte. Drumherum musste der Fluss ein klein wenig Höchstleistungen zeigen, da hier sich der feine Sand irgendwie gern sammelte und es aussah, als sitze man in der Südsee mit hellblauen durchsichtigen schönen flachen Stellen.

Überrascht blieb ich stehen. Mein Lieblingsplatz war besetzt! In der langsam wärmenden Morgensonne saß ein Mann mittleren Alters, der wohl normalerweise viel unter freien Himmel zu sein schien. Nur mit aufgekrempelter Jeans bekleidet, saß er mit nacktem Oberkörper und barfuß genau auf meinem Platz! Von mir abgewandt, sah ich seinen muskulösen Rücken; durch die Bewegung seiner Arme zeichneten sich die einzelnen bewegenden Muskelstränge überdeutlich ab. Er beugte sich über etwas, was vor ihm auf dem Stein lag und von dem diese merkwürdige Musik zu kommen schien. Wasser spritzte vom Fluss gegen die Steine, so dass es wohl der Grund war, warum der Mann nicht so viel an hatte. Sein ganzer Oberkörper glänzte bereits vor lauter Nässe.

Leise umrundete ich ihn. Intuitiv hätte ich schwören können, dass ihm meine Anwesenheit voll und ganz bewusst war. Also nahm ich mir die Freiheit, mich im direkten Blick zu ihm ins Gras zu setzen und ihm zuzuhören. Das Instrument schien einem halbrunden fast schwarzen Stein ähnlich, dem jemand wie bei einem Kamm Rillen hineingesägt hatte. Der Mann fuhr mit seinen Händen über diese Lamellen und erzeugte damit die unterschiedlichen Töne. Ein für mich absolut neuer Klang schwang durch die Luft. Wenn Sphären eine Stimme haben konnten, dann hörten sie sich bestimmt so an. Als Mädchen fand ich die Vorstellung des alten Pythagoras[1], dass die Erde von verschiedenen sich bewegenden Kristallkugeln umgeben war, ganz schön realistisch; wenn man im Kleinen Musik machen konnte, warum nicht im Großen?

Selbst Chapper legte sich ganz ruhig neben mich und hörte aufmerksam zu. Überraschend begann der Musiker mit einer volltönenden tiefen Stimme dazu zu summen. Erst ganz leise, dann immer deutlicher. Mit seinem Summen gab er dem fast unwirklich erscheinenden Klang eine zweite Stimme; es gab ihm eine Schale, die die Töne bannte und dann entließ. Ich fühlte mich unglaublich beschenkt. Glücklich stützte ich mich mit den Händen nach hinten ab und schaute ihm zu.

Ständig spritzte Wasser vom Fluss hoch. Als ich seinen nassen Oberkörper so sah, wunderte ich mich, dass er so nass wurde. Neugierig beugte ich mich nun etwas vor. Mit etwas zusammen gekniffenen Augen sah ich an meinen flachen „Südsee-Stellen“ sehr bewegtes Wasser. Na klar, wenn man eine Brille brauchte, dann war sie gerade nicht greifbar! So verschob ich meinen Sitzstandort um einen Meter nach vorn, Chapper hob nur kurz ein Augenlid und bewegte sich aber nicht weiter. Fische? Nein, hier gabs doch nicht solche Größen! Ich robbte mich noch einem halben Meter heran.

Dem Mann schien es überhaupt nichts auszumachen; irgendwie war er fern in seiner Welt. Er spielte, sang und schien ausgesprochen zufrieden und glücklich. Mit einem Lächeln im Gesicht und geschlossenen Augen fuhr er immer wieder mit den Händen über die Lamellen. Ab und zu tauchte er eine Hand in das Wasser und strich wieder behutsam über die Oberfläche des kuriosen dunklen Instruments. Mit gestreckten Hals beobachtete ich nun genauer, was zu den Füßen des Mannes herumkroch…Überrascht hielt ich die Luft an. Bestimmt zwanzig oder mehr Feuersalamander in ihrer eigentümlichen schwarz-gelben Färbung bewegten sich durcheinander hin und her.

Fassungslos schaute ich zu; naja, vielleicht starrte ich auch. Meine Gedanken überschlugen sich fast. Von den kleinen Tieren habe ich in den letzten Tagen bisher nur zwei Stück gesehen, schließlich war ihre Art nachtaktiv und ich nicht. Jetzt war es früh am Morgen und sie sahen kein Stück müde aus. Es kam mir vor, als rangelten sie um den besten Platz in der Nähe des Mannes…

Japsend kam mir ein Gedanke: Die Musik und sein Gesang hatten sie gerufen!

Still verharrte ich in meinen Bewegungen. Etwas ganz Besonderes musste sie anziehen, etwas Eigenwilliges. Ich sah es und erfasste es doch nicht. Ein kurzer Blick zu meinem Hund zeigte mir seine völlige Entspannung, sein Hinabsinken in ein Wohlgefühl; wenn er ohne Vorbehalte hier lag, dann durfte ich das auch; ich wollte es auch…

Das Summen der tiefen Stimme machte die Luft ganz weich, als blicke ich auf Wolkenkissen in meiner Reichweite. Die Harmonien des Instrumentes umspielten diese und ließen die gelben Streifen der Molche gemeinsam mit dem Sonnenlicht golden glitzern. Schönheit, die ich sehen, hören und durch mein Zwerchfell pulsieren spürte. Meine sonst mich so umtreibenden Gedanken ergaben sich. Sie überließen meinen Empfindungen die Bühne meiner Wahrnehmung, die das volle Maß ihrer Möglichkeiten mit Genuss voll ausschöpfte.  

Plötzliche Stille ließ mich meine Augen wieder öffnen.

Das Fenster war immer noch geschlossen, die Sonne schien durch die Scheiben und wärmte mein Gesicht. Tiefe Entspannung ruhte in meinem Körper während die Wärme meines Bettes mich kaum vom Schlaf der Nacht loslassen wollte. Ich lächelte. Irgendwo war ich, irgendwo durfte ich für wenige Momente sein…schön.

___

Anm. z. Text:

Es gibt tatsächlich Klangsteine! Das Streichen mit nassen Händen über die geschnittenen Lamellen des Steines setzt harmonische Klänge frei. Die Schwingungsenergie besitzt nach den physikalischen Gesetzen der Resonanz Auswirkungen auf Gewebe und Organe. Mehr dazu unter: https://klangsteine.com

Unsere Sinne sind mehr als nur Helfer für unseren Alltag! Sie bieten jedem Lebewesen eine Brücke in eine besondere Welt, die genauso real ist, wie das uns logisch Erscheinende. So manch einer mag diese Vorstellung belächeln, doch wir tragen den Schlüssel für den Zutritt in uns selbst. Wäre es nicht einmal einen Versuch wert, diesen einfach mal vom Bord zu nehmen und auszuprobieren?


[1] https://physik.cosmos-indirekt.de/Physik-Schule/Sph%C3%A4renharmonie