Wenn der Barcode nicht lesbar ist…

Seufzend beruhigte ich mich mit den Dingen, die ich wenigstens wusste: eins plus eins war gleich zwei, jeden Morgen ging die Sonne auf und wenn ich meinem Hund nach einem erfolgreichen „hier“ kein Leckerli gab, dann wurde ich in den Boden gestarrt…

Die Croissants in meiner Hand fühlten sich noch ganz warm an und der Duft stieg trotz geschlossener Tüte hoch. Diesen Luxus gönnte ich mir nicht jeden Tag, aber doch öfter in der Woche, da der erste Kaffee mit Butterhörnchen und Honig einfach göttlich schmeckte. Die Inhaberin der Bäckerei stand selbst jeden Tag hinter der Theke und tat ihr Bestes, um ihre Waren ins rechte Licht zu rücken. Selbst der Verkaufsraum spiegelte ihren Geschmack wider und ich konnte einfach da stehen und mich gut fühlen.

So öffnete ich vorhin die Tür und freute mich, dass gerade das gewöhnliche Gewusel für einen Moment pausierte und ich vermutlich heute Morgen ein klein wenig rechtzeitiger zu meinem Kaffee käme. Mit einem fröhlichen „Moin Moin“ versuchte ich die Aufmerksamkeit als Kundin auf mich zu lenken, da Madame Crois[1], wie ich sie insgeheim nannte, gerade mit dem Rücken zu mir stand und Waren auffüllte. Geduldig wartete ich. Die Gute schaffte es immerhin mir ein „Moin“ entgegen zu bringen, ließ sich aber in ihrem Tun nicht unterbrechen.

Sinnierend betrachtete ich ihren Rücken. Täglich hatte sie mit Menschen zu tun, aber verbiegen konnte diese Tatsache sie nicht; sie blieb bei ihrem etwas knatterigen, manchmal grantigen Wesen. An guten Tagen reizte sie die Möglichkeiten ihrer Gesichtsmimik aus und strahlte mit einem Lächeln die Kunden an, an normalen Tagen schenkte sie das Unergründliche eines neutralen Gesichtsausdrucks und an schlechten Tagen schmuggelte sich eine Falte der Ungeduld zwischen ihre Augenbrauen. Gerade jetzt war mir weder das eine noch das andere vergönnt, da ich immer noch mit dem Rücken vorlieb nehmen musste, aber ich hab ein „Moin“ bekommen! Wow!

Am Anfang dachte ich, sie würde mich überhaupt nicht mögen und wollte mich mit ihrem Verhalten am langen Arm verhungern lassen. Irgendwann beschloss ich, dass sie einfach kompliziert sei; seitdem nahm ich ihre meist fehlende Begrüßung lockerer. Das eigene Empfinden glich dann einem Tisch oder Stuhl, man war halt da. Immerhin verkaufte sie mir ihre einmaligen Croissants. Das war doch was.

Immer noch betrachtete ich ihren HInterkopf; na klar, ich hatte alle Zeit der Welt…wer will schon frühstücken? Ich kam mir vor, als starre ich auf eine Mauer, die  anscheinend die Bäckerin immer mit sich herum trug. Etwas Großes, etwas Unüberwindbares, einen Schutz, um nicht von der Welt mit all ihren Anforderungen und bunten Aufgeregtheiten nieder gerissen zu werden. Gedanklich legte ich meine Hand an diesen Wall. Obwohl sie eine für mich eigenwillige Person war, mochte ich sie. Vielleicht war es auch der Grund, warum ich überhaupt zu solchen Überlegungen kam. Vielleicht wollte ich ihr dies zeigen, aber vielleicht wollte sie solche Kinkerlitzchen überhaupt nicht hören.

„Das macht 3 Euro.“

Erschrocken blickte ich mein Gegenüber an. Von meinen inneren Bildern abgelenkt, hatte ich nicht einmal bemerkt, dass Madame Crois bereits voll und ganz mit mir war und sogar wusste, was ich wollte.

Nachdenklich bezahlte ich, verabschiedete mich und ging.

Sie wusste und ich nicht!

Angenommen die Eigenschaft eine begnadete Bäckerin zu sein, besagte überhaupt nichts darüber aus, in welchem Maße sie normalerweise gern Umgang mit anderen pflegen würde. Vielleicht füllte der Kontakt von zwei oder drei Menschen pro Tag bereits ihr Innerstes so dermaßen, dass nichts anderes mehr Raum besaß. Vielleicht war die so präsente Mauer eine Ölhaut, die bei stürmischen Eindrücken diese abperlen ließen und nur bei gefühltem Sonnenschein exakt aufgerollt wurde?

Angenommen mein Bedürfnis, mein Gegenüber immer im vollen Maße wahrnehmen zu wollen ließ mich durch einen Filter schauen, der den anderen in einem völlig falschen Bild darstellte. Vielleicht besaß ich dadurch meine eigene Mauer, so dass mir ein wahres Erkennen überhaupt nicht möglich war!

Mauern besaßen zwei Seiten, eine davon schützte, eine davon hielt andere fern, doch wenn ich am Ende des Bollwerks stand und meine beiden Arme um die Ecken legte, dann verband ich sie. Ein Lächeln von der einen Seite und ein zweites von der anderen entzog der Mauer ihre Bedeutung, ließ sie im Nichts verschwinden. Wer konnte mir schon sagen, was wirklich da war und was nicht? Nur weil ich etwas nicht wahrnahm, hieß es noch lange nicht, dass es nicht existierte! Doch wie sollten wir uns überhaupt dem Nähern, wenn wir keine Ahnung hatten?

Mein Blick fiel auf mein angebissenes Croissant von dem gerade der Honig herunter tropfte. Das war real! Genau! Die Fäden ließen sich dort aufnehmen, wo wir uns noch sicher waren, wo wir mit beiden Beinen auf der Erde standen. Ich dachte an meinen Besuch in der Bäckerei. So wollte ich das nicht! Gleich morgen würde ich wieder hingehen! Gleich morgen würde ich sie so lange anlächeln, bis ich es geschafft hätte, dass ihr nichts anderes blieb, als jeglicher Normalität für einen Augenblick zu entsagen…also, bitte nicht ganz, dafür schmeckten die Croissants viel zu gut!


[1] abgeleitet von „Croissant“, aber auch von dem Verb „croire“, das u.a. die Bedeutung „glauben“ und auch „sich einbilden“ haben konnte.