Bokkenstunden[1] besaßen ihren eigenen Reiz; sie waren ganz besonders! Manchmal erschien es mir fast unmöglich, diese Erfahrungen in Worte zu fassen. Trotzdem versuchte ich es, denn das Finden von Worten war ein Benennen, um die Tiefen auszuloten. Was ich einem Namen geben konnte, war fassbar, betrachtbar und ich konnte es verändern.
Die Arbeit mit dem Schwert verwandelte die eigene Energie in ein sichtbares Instrument. Auch wenn die ersten Übungen der 40-teiligen Liste[2] vielleicht für einen unbedarften Betrachter als einfach empfunden werden könnten, so möchte ich an dieser Stelle betonen, dass dem nicht so ist! Jede Einzelne benötigte konzentriertes und genaues Fokussieren.
Ohne es zu wissen, ohne dem wirklich bewusst zu sein, lebten wir oftmals viele Jahre mit dem „Bauchgefühl“, erfreuten uns an einer „inneren Standfestigkeit“, die uns Halt gab und glaubten daran, dass in unseren Tiefen, Besonderes seinen Sitz hatte. Dem ist auch so. Die innere Kraft zog sich aus unserer Körpermitte[3].
Wir bereisten so viele fremde Länder, wir schauten uns so viel Unbekanntes an und durchdrangen Fremdes in den geheimen Windungen unserer Erde. Und wir selbst? Wie viel könnten wir von den Dingen, die unser Kopf oder unser Körper in Erinnerung besaß, überhaupt benennen?
Wenn ich einem starken Angreifer gegenüber stand, dessen alleinige Präsenz schon für sich eine Waffe darstellte, dann war es wichtig, das eigene Empfinden zu sammeln; dann war es wichtig, Körper wie Geist zu einer Einheit zusammen wachsen zu lassen; dann war es wichtig, die innere Kraft zu mobilisieren.
Doch wie konnte ich verhindern, dass mir „der Schreck in die Glieder fuhr“? Wie konnte ich ein durch die Situation entstandenes Paralysiert-Sein erst gar nicht aufkommen lassen? Die Kontrolle über den eigenen Körper zu besitzen, das Erlernen von Bewegungen mit Achtsamkeit und Rundumblick erschienen mir in den Bokkenstunden als eine fast grenzwertige Herausforderung. Waffen können verletzen und gleichzeitig stärken … aber in der Kampfkunst richtete sich das Schwert im übertragenden Sinne nur gegen uns selbst. Der Trainingspartner half uns, Wesentliches dabei zu erfahren: Wie konnte ich meine Empfindungen kontrollieren, wie konnte ich meinen Willen schulen und wo befand sich meine Leistungsgrenze, die mit jeder Übung eine Verschiebung erfuhr? All das war erfassbar und möglich, wenn ich meine Gedanken und meinen Körper in Harmonie verband.
So kreuzten sich in der letzten Trainingsstunde die Schwerter. Das unbewegliche Gesicht meines Trainingspartners begleitete die Bewegung mit einer nachhaltigen Präsenz. Allein diese Feststellung nahm meinem Handeln den Fokus; die Gedanken lösten sich von meinem Körper und ein Ungleichgewicht als solches wurde für mich fühlbar. Die bisherige Einheit in mir selbst zerbrach, als führe das Schwert durch mich hindurch. Mir wurde der Halt genommen und ich fiel von der Klippe der Standfestigkeit …
Zum Abschluss der Stunde sprach ich mit unserer Trainerin darüber. Sie blickte mich nur an und sagte:
„Es kommt das Meer, es hebt dich und trägt dich dann wieder ans Land!“
[1] Bokken = hölzernes Übungsschwert
[2] Kashima Shin-ryu Ken-jutsu
[3] Dieser Punkt wird auch Hara genannt und befindet sich ungefähr eine Handbreit unterhalb des Bauchnabels. Er wird in der traditionellen japanischen Medizin und in der Tradition der japanischen Kampfkünste als technischer Begriff für einen spezifischen Bereich (körperlich/anatomisch) oder für das Energiefeld (physiologisch/energetisch) des Körpers gebraucht. (auch wenn Wikipedia eigentlich keine richtige Begriffs-Quelle ist J ich fand die Beschreibung gut und übernahm sie deshalb)
Trainerin: Julia Wagner, 4. Dan
Trainingsort: https://aikidozentrum.com/
Anm. z. Titelbild: gesehen im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg