Im Aufwind des Gegners

Es sah so wunderschön aus! Ich beobachtete die Fortgeschrittenen und verlor mich einen Moment lang in den Überlegungen. Wenn sich Schönheit entfaltet, sei es in der Natur, in unserem Handeln oder in einem Miteinander, dann geschahen viele Dinge. Oftmals war es uns überhaupt nicht klar, warum sich dies Empfinden als wohltuendes Tuch über das eigene Ich legte. Im Grunde enthob sich eine Überlegung darüber, da wir nur den Moment genießen sollten, wie einen kleinen Schmetterling, der auf unserer Hand landete.

Es gab aber eine Ausnahme: Wenn wir von der Schönheit lernen wollen, dann müssen wir sie ergründen, ihre Tiefe erkennen oder schlicht und einfach den Baukasten des Dargebotenen in beide Hände nehmen. Da stand ich nun, besaß das Notwendige und fand trotzdem noch nicht das Wesentliche, das sich hinter der Gesamtheit des Eindrucks versteckte.

Mit einem gezielten Fauststoß auf mein Kinn kam mir mein Gegenüber freundlich lächelnd entgegen. Eine Diskrepanz, die beim Trainieren völlig in Ordnung war, schließlich sollte uns das Bedrohliche des Kommenden nicht von einer zu lernenden Technik ablenken …

Meine rechte Körperhälfte war meinem Gegenüber zugewandt, sodass ich mit der erhobenen Hand den Impuls ein klein wenig begleiten konnte. Mein hinterer Fuß kam mit einem Schritt nach vorn, wobei der Oberkörper eine Verdrehung erfahren sollte. Ich fühlte mich in eine Schraube gezwungen, die mir bei den erstmaligen Versuchen völlig unnatürlich erschien. Das Gefühl des diffusen Durcheinanders machte sich breit.

Niemals! Das war doch fast nicht machbar! Irgendwie fühlte sich das ganze Gebilde nicht richtig an. Ich war kurz davor, vor lauter Ungeduld herum zu hüpfen und entzog mich einer trainierenden Zweisamkeit. Ich war mir für einen Moment Aufgabe genug. Mein Trainingspartner schaute mich wissend an. Geduldig nickte er und zeigte mit dem Finger auf meine rechte Hüftseite:

„Die bleibt dabei vorn!“

Die Worte hallten in mir nach; sie brauchten einen Moment, um bei mir anzukommen. Mein automatisches Verhalten ignorierte das Gesagte erst einmal rundweg. In mich horchend, spürte ich meinen widerstrebenden Körper. Unbewusst lächelte ich. Dies Verharren und im Grunde das Paralysiert-Sein von etwas, das nie so gemacht wurde, kannte ich von meinem alten Kater, der sein rohes Ei immer nur aus einer bestimmten Schale wollte, nicht daneben auf einem Teller und auch nicht vermengt; er hungerte lieber. Klar könnte ich mich verweigern, klar könnte ich auf Althergebrachtes pochen und ein Lernen verwerfen, bis die nächste Aufgabe käme. Doch wie viel würde ich von der Welt sehen, wenn der Tunnel des Bekannten niemals Portale zur Seite hätte, die mir dann die Weiten des Möglichen darboten?

Langsam und bewusst positionierte ich mich nun erneut mit der rechten Seite nach vorn; Hand, Fuß und Hüfte. Der hintere Fuß machte seinen Schritt und die rechte Hüfte blieb, wo sie war. Seufzend verharrte ich in dieser Haltung. Jetzt könnte eine kleine Brise kommen und mich von meinem wackeligen Stand herunterpusten. Die Koordination von Körper, Armen und Füßen klappte noch nicht wirklich gut und das Ganze nur, weil ein kleiner Baustein verändert war!

Was wollte ich eigentlich? Es waren immer Spiralen! Seien sie um mich herum oder in meinen Bewegungen, selbst meine kleinsten Bausteine innerhalb meines Körpers fanden ihre Vervollkommnung innerhalb von Doppelhelices, die sich drehten … und genau solch eine Spirale sollte mich vor dem schützen, was mir entgegengebracht wurde. Wie viele Argumente brauchte ich eigentlich?

Noch etwas ungelenk positionierte ich mich nun nochmals zu dem mir entgegengebrachten Impuls meines geduldigen Trainingspartners. Doch diesmal gab es kein Innehalten und auch kein Stoppen oder Aufgeben mittendrin. Ohne noch weiter darüber nachzudenken, entließ ich mich selbst aus der Verschraubung und fühlte mich für einen winzigen Moment durch die befreite Energie in eine Bewegung katapultiert. Mein Angreifer fiel zu Boden. Zwei Spannungsbögen trafen aufeinander und führten von ganz allein gemeinsam in eine Richtung weiter. Es wurde ein Verschmelzen im Tun.

Der über das Tal gleitende Falke kannte dies Gefühl …


Trainer: Matthias Lange, 5. Dan

Trainingsort: https://aikidozentrum.com/

Anm. z. Titelbild: Schwertstichblatt (tsuba) mit aus dem Wasser springenden Karpfen und Wespe; signiert von Kano Natsuo (1828-1898), Edo-Zeit, 1863, Eisen und Einlagen aus Gold und Silber, gesehen im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg