Die Bilder des Eduardo

Augenzwinkernd überreichte mir der Ober eine Wiener Melange mit fast überbordender Milchschaumhaube. Einen kleinen Moment verharrte er, betrachtete mich über den Rand seiner schmalen Brille und schweifte schließlich mit seiner Aufmerksamkeit kurz in die Runde, damit er jeden auch noch so plötzlichen Wunsch der anderen Gäste nicht übersah.

„Na, des is doch der….!“

Johann rannte mit wehender Serviette auf die Straße und eilte zu einem kleinen dunkelhaarigen Mann mit Zwirbelbart, der keine fünf Meter entfernt gerade dabei war, ein mitgebrachtes Köfferchen auf einem schmalen Hocker zu platzieren. Lautes Rufen, Umarmen und immer wieder Betrachten ließ vorbeigehende Passanten lächelnd die beiden offensichtlichen Freunde umrunden; ihre Freude verbreitete sich fast wellenförmig über den ganzen Platz. Versonnen betrachtete ich sie über meine Tasse hinweg und sah die unzähligen Lachfältchen des Straßenkünstlers. Ich hätte schwören können, dass sein ausdrucksstarker Blick eine winzige Sekunde mir galt. Irritiert hielt ich in meiner Bewegung inne, widmete mich aber dann in der nächsten Stunde meinem Schreiben.

Zufrieden klappte ich schließlich meinen Laptop zusammen und stellte meine Sachen kurz bei Johann ab. Dieser übergab mir wissend lächelnd einen neuen (wirklich allerletzten) Kaffee und scheuchte mich fast förmlich mit der anderen Hand auf die Straße. Ich musste lachen, meine Neugier war wohl zu offensichtlich.

Mehrere Passanten standen bereits um den vorhin stürmisch Begrüßten herum und ich musste mir erst einen Weg in die vordere Reihe suchen; es war einfach, da die meisten dachten, ich würde dem Künstler etwas zu trinken bringen. Einen kleinen Moment überkam mich das schlechte Gewissen, weil ich einen Schein ausnutze, der eigentlich überhaupt nicht meiner Intention entsprach. Nach dem dritten „Entschuldigung“ ging ich kurz entschlossen zu dem am Boden Knieenden und stellte ihm tatsächlich den frisch gefertigten Kaffee an die Seite. Erfreut blickte er auf, nickte kurz zum Dank und verwies mit einer eleganten Bewegung seiner durch die Kreide bunten Hände auf das bisherige Werk.

Schillernde 3D-Bilder! Die Sonne beleuchtete das alte Pflaster und ließ die kleinen Farbpartikel glitzern, so dass jede Couleur das volle Spektrum seiner Eigenart wiedergab. Irisierendes Grün vermengt mit tiefgründigem Blau fing meinen Blick. Ohne einen Augenblick darüber nachzudenken kniete ich mich direkt davor, um dies eigenwillige Farbspiel näher betrachten zu können. Gold schien damit verwoben und führte in einem sich drehenden Strang in die Tiefe. Ehrlich gesagt konnte ich überhaupt nicht erkennen, was der Straßenkünstler darstellen wollte. Es erinnerte mich ein wenig an Seetang im sonnendurchflutenden blauen seichten Meerwasser unter endlosem Himmel.

Intuitiv streckte ich vorsichtig meinen Finger aus, um diesen besonderen Eindruck zu erfassen, konnte mich aber zum Glück rechtzeitig daran erinnern, wie wenig dies wohl vom Künstler gewünscht sein könnte. In diversen Museen lernte ich auf diese Weise das Aufsichtspersonal schon etwas näher kennen, also blieb ich nun ein wenig vorsichtig. So probierte ich, es mit einer unterschiedlichen Kopfhaltung zu ergründen, damit meine Augen die Machart und die daraus ergebende Wirkung erkennen konnten. Doch das Geheimnis blieb mir verschlossen. Leise seufzte ich; wie sollte ich mich dem Unbekannten der Welt nähern, wenn sich die Welt nicht zeigte?

„Du kannst es nur mit verschlossenen Augen sehen.“, bemerkte der mir gegenüber kniende Straßenkünstler leise. Überrascht schaute ich auf. Der kleine Mann arbeitete konzentriert an seinem Werk und niemand anderer hätte so leise etwas sagen können, da alle übrigen um uns herum standen.

Was hatte er eben gesagt? Meinte er wirklich „verschlossen“? Ich sah ihn an. Völlig weltentrückt nutzte er die um ihn herum liegenden Farben, malte, legte beiseite und griff ohne Zögern zum nächsten Stück Kreide. Ich mochte ihn nicht aus seinem Schaffen herausreißen. So schaute ich wieder auf das Pflaster vor mir in das unergründliche grün-blaue Schillern.

Na gut…ich schloss meine Augen und die bereits von mir erwartete Dunkelheit umgab mich. Ich hörte die Stimmen der diskutierenden Menschen um mich herum, ich hörte das Kratzen der Farben durch den Straßenkünstler und ich hörte meinen Herzschlag. Ich musste lächeln, es war gut, dass niemand aus dem Stand heraus mein Treiben beobachten konnte.

Vor meinem inneren Auge zeigte sich das soeben betrachtete Kunstwerk von der Straße. Ein frisches Gras-Grün, vermengt mit Smaragd, Olive und Minze stieg ineinander verdreht in die Höhe oder auch Tiefe; ich konnte es nicht wirklich erkennen, da die geschickte Malweise es je nach Winkel unterschiedlich suggerierte. Meine Gedanken ließen es langsam in sich bewegen. An den Rändern der Grüntöne schillerte die Sonne hinein und glitzerte wie kostbares Gold, als breche umgebendes Wasser immer wieder den Verlauf des Lichtes. Ohne es zu bemerken streckte ich nun doch meine Hand aus, um das Gedankenbild zu berühren. Ich bildete mir ein, den sich drehenden Strang zu erfassen und fühlte an meinen Fingerspitzen Weiches, das in meiner Handfläche versank. So fiel mein innerer Blick auf das Blaue, das wirklich Wasser zu sein schien; es schillerte wie die Kornblumen auf einem Sommerfeld, die sich das Azur des Meeres geliehen hatten.

„Sag mal Kindchen, willste nicht langsam von der Straße aufstehen? Du holst dir noch einen Schnupfen!“

Irritiert öffnete ich wieder meine Augen. Eine ältere Dame hatte ihre Hand auf meine Schulter gelegt und betrachtete mich ganz besorgt. Ich brauchte einen Moment, um mich wieder meiner Umgebung bewusst zu sein.

„Oh, ja, danke.“ Ich nickte und etwas steif kam ich wieder auf die Beine. Es standen immer noch Menschen um die vielen Bilder herum, aber der Künstler war nicht mehr zu sehen. Selbst der kleine Hocker mit dem Kreide-Köfferchen stand nicht mehr da. Schade.

Etwas benommen ging ich zurück ins Café, um meine Sachen wieder einzusammeln. Ich bezahlte bei Johanns Kollegin und trat wieder auf die Gasse. Ich ging einige Schritte und blieb dann stehen. Nein, so konnte ich nun nicht gehen. Wenn schon schöne Kunst geschaffen wurde, dann musste sie auch betrachtet werden! Schließlich hatte ich bisher nur ein Bild genauer in Augenschein genommen.

Begeistert umrundete ich die übrigen wunderbaren Werke und kam dann zurück zu meinem vorherigen Platz. Ich lächelte, als ich das Grün-Blau-Gold wiedererkannte. Gerade wollte ich mich nun endgültig auf den Weg machen, da fiel mir nur zwei Schritte weiter ein anderes Bild ins Auge.

Überrascht sog ich die Luft ein.

Die Zeichnung zeigte eine kniende Frau in Jeans, weißem T-Shirt und zusammengebundenen Haaren; einige Strähnchen fielen ihr übers Gesicht. Mit einer Hand stützte sie sich auf dem Pflaster ab, doch die andere Hand versank bis zum Ellbogen in den Tiefen der schillernden Farben…

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Anm. z. Titelbild: Ein Bild von Ferdinand Waldmüller (1793-1865) „Der junge Knecht mit der Stalllaterne“, entstanden im Jahre 1824. Es hängt in der Hamburger Kunsthalle.

Als ich das Bild vor einigen Wochen im Museum betrachtete, überraschte mich der absolute Eindruck der Lebendigkeit. Der Künstler schuf mit seiner Malweise die Illusion von Realität. Als dieser Gedanke bei mir einen kleinen Moment nachhallte, fragte ich mich, inwieweit es sich wirklich um ein Trugbild handelte, wer entschied, was letztendlich unsere Wirklichkeit ausmachte?