Mit dem ersten Sonnenstrahl schenkte mir der Himmel die Feder eines Eisvogels. Auf meinem Weg durch den frühen Wald zeigte das Licht gleich einem Fingerzeig auf das irisierende Königsblau und traf mein Auge. Überrascht hob ich sie auf. Gegen die Sonne gehalten funkelten die Ränder, als perlten kleine Diamanten am geschwungenen Bogen herab. Ohne darüber nachzudenken, warf ich sie kurz dem Osten entgegen. Mit drehenden Bewegungen folgte sie dem leichten Wind, um schließlich am Fuße eines Baumes liegen zu bleiben. Nickend glaubte ich mich zum Sitzen eingeladen und fuhr mit der Hand über das trockene Laub des vergangenen Herbstes; es war nur ein klein wenig feucht von der Nacht. Das war in Ordnung, denn ich würde nicht allzu lange bleiben.
Mit meinem Fundstück in der Hand wartete ich. Das Sonnenlicht lag nun schon auf der Höhe meiner Schultern, in weiteren zehn Minuten würde es den Waldboden berühren. Keine menschliche Stimme störte die Ruhe des Waldes, dafür waren aber alle anderen wach. Von Ruhe ließ sich also nur bedingt sprechen, für mich aber genau richtig. Mein Hund saß ganz entspannt und ruhig auf dem Weg und würde anschlagen, wenn sich irgendjemand näherte. Er wusste, wann ich für mich sein wollte und wann meine Aufmerksamkeit wieder bei ihm wäre.
Noch drei Minuten; noch zwei Minuten, noch einen kleinen Moment…jetzt! Die Blätter begannen zu glühen. Langsam bewegte sich etwas zwischen ihnen, doch sie selbst veränderten de facto ihre Lage um keinen Millimeter. Die kleinen Zwischenräume, die winzigen Miniatur-Canyon neben, über und unter jedem einzelnen Blatt füllten sich mit etwas Diffusen. Nur das genaue Auge sah und registrierte. Ich richtete meine Konzentration auf das kaum Sichtbare, auf das sich immer mehr Verdichtende und traute mich kaum zu bewegen. Kniend saß ich inmitten von etwas, das meine Anwesenheit ignorierte, tolerierte oder auch guthieß. Ich glaubte an das Letztere, entspannte meine Muskeln und legte meine Hände ineinander. Warten war eine Kunst; eine vollendete Kunst, die meine Hochachtung besaß.
Vorsichtig legte ich die Feder auf das durch die Sonnenstrahlen gefärbte Blattwerk. Meine Augen schienen das Blau der Feder über das dünne fast papierende Laub zu ziehen und dadurch die Farben brillanter in mein Bewusstsein zu heben. Ein Widerhall des Reichhaltigen berührte mein Inneres und umspielte aufkommende Gedanken mit diesem Schatz. Die Feuchtigkeit des Waldbodens fand seinen Weg durch die Luft, traf auf die schräg fallende Wärme der Morgensonne und offenbarte nun das, worauf ich wirklich wartete:
Lächelnd schloss ich halb meine Augen, um meinen Fokus des Sehens zu verändern. Auf der einen Seite meines Bewusstseins umhüllte mich der erwachende Wald in der Morgensonne und griff in all das Lebende in ihm. Spiegelnd und glitzernd stieg der Dunst der Sonne entgegen und zeichnete so die Umrisse in meinem Blickfeld. Der bemooste Stamm meines Baumes, an dessen Fuß ich kniete, enthüllte mir seine Aura. Hell und doch undeutlich verwischte sich dadurch das Bild der tiefen Rillen seiner Rinde. Er lebte und trug sein Inneres nach außen der Sonne entgegen. Konzentriert blickte ich vorsichtig zu den anderen Pflanzen und Bäumen; ich wollte den besonderen Fokus nicht verlieren, er würde so oder so in wenigen Minuten einem veränderten Stand der Sonne Rechnung tragen müssen.
Mit geöffneten Handflächen schloss ich mich nun mit der anderen Seite meines Bewusstseins diesem außergewöhnlichen Moment an. Jeder Mensch besaß seine eigene Art sich der Welt mitzuteilen und den Austausch mit ihr zu finden. Buchstaben umschwirrten meinen Geist. Vorsichtig ergriff ich die besonders schönen, obwohl jeder Einzelne seine eigenwillige Bedeutung für mich besaß. Sie glichen dem Dunst der Blätter, die ihr Wesen durch mein Innerstes formierten.
Beide Seiten verbanden sich in Spiralen miteinander und vermengten die äußere Farbe mit der inneren. Wieviel Buntes ich den Worten übergab, oblag mir ganz allein. Es war immer ein anderes Zusammenspiel, das etwas Neues entstehen ließ. Keine zwei Menschen trugen ein Wort mit dem gleichen Bild in sich, denn die Tönung war wundervoll mannigfaltig.
Langsam entzog sich das diffuse Licht und ich richtete mich auf. Dankbar strich ich mit meinen Händen über das Laub, das in meinen Augen niemals seine Farbe verlieren würde, denn es war nun ein Teil von mir geworden.
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Anm. z. Titel: Das Kugelstoßpendel, vom Mathematiker und Physiker Edme Mariotte (1620-1684) erfunden, besaß eine Anordnung von meist fünf gleichen Metallkugeln, die an gleich langen Fäden auf einer Linie hintereinander hingen. Wenn die äußere Kugel angehoben wurde und zurück fiel, dann übertrug sich der gegebene Impuls auf die nächste Kugel, bewegte sie aber nicht, da diese ihn wiederum weitergab, bis letztendlich die letzte Kugel dies nicht tun konnte und deshalb sich aus der Reihe löste und wieder zurück auf die davor liegende Kugel stieß. Alles begann dann neu.
Das dem Pendel zugrunde liegende physikalische Gesetz ist Natur. Ein gegebener Anstoß durchdringt Leben und findet niemals ein Ende. Wir sind ein Teil dessen und erhalten unseren Impuls zum Leben, Lieben und Lernen nur durch sie. Hoffentlich vergessen wir es nicht.