Die Sonne brannte, das Gras war trocken von der Mittagshitze und die Menschen schienen alle Zuflucht in ihren Häusern gefunden zu haben. Trotz dieser heißen Stunde öffnete ein beliebtes Landlokal seinen verwunschenen Garten mit unzähligen duftenden Blüten und urwüchsigen Stauden; Schatten und Licht wechselten je nach Blickwinkel mit einem Versprechen auf Kühle oder Hitze das Szenario. Obwohl jeder Besucher in erster Linie nach einem Sitzplatz in den unterschiedlichen Ecken suchte, blieb der erste Blick wie magisch am Mittelpunkt des Gartens hängen: Ein kleiner, fast kitschiger Springbrunnen mit gedrungenen Engeln zog die Blicke an. Die ausgebreiteten Arme der fast lebendig wirkenden Figuren fingen das kühle Nass aus einer Amphore auf, die mittig ein unerschöpflicher Quell des glitzernden Wassers zu sein schien. Winzige Tropfen sprühten von hier aus auf die beiden in der Nähe aufgestellten Tische, die den Schatten eines Sonnenschirms genießen durften.
Auf der einen Seite saß bereits eine elegant wirkende Frau in einem blauen Leinenkleid; sie könnte ein übrig gebliebenes Mitglied des „Fin de siècle“ sein, das sich in der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts durch eine gewisse Dekadenz auszeichnete; doch nur für einen kleinen Moment, es war wohl der sinnierende Blick auf die nackte Putte des Springbrunnens, der diesen Eindruck hervorrief.
Als ein weiterer Besucher den Garten betrat und ebenfalls den kühlen Hauch des Wassers unter dem weißen Schirm suchte, beendete die junge Frau ihre fast verträumte Gedankenspielerei und setzte sich mit gerader Haltung und übereinander geschlagenen Beinen an den Tisch. Ein kurzes Nicken zeigte ihr Einverständnis zur Nähe des weiteren Gastes, obwohl der riesige Garten tausend andere Sitzmöglichkeiten bot. Ein stilles und fast unmerkliches gegenseitiges Abschätzen beider Gäste benötigte nur einige Sekunden. Und nach einer Weile verflachte die Aufmerksamkeit für den jeweils im Blickfeld Sitzenden und zerrann im Sand, der unter den Füßen knirschte.
Er bestellte sich den ebengleichen Kaffee mit Sahne und Zucker, den er bereits verlockend vor der Dame hat stehen sehn. Die mitgebrachte Wirtschaftszeitung legte er auf den Tisch, fühlte sich aber im Moment nicht in der Stimmung diese genauer zu betrachten; immer wieder irritierte ihn ein leichtes Glitzern am Kleid seiner Sitznachbarin, die die Aussicht auf den Park genoss. Obwohl sie im Schatten saß, spiegelten sich in den kleinen Silberknöpfen, die vom Dekolleté bis zu den Knien das sommerliche blaue Leinenkleid schlossen, die Helligkeit des Tages. Irgendetwas stimmte nicht. Intuitiv erfasste der nachdenkliche Mann eine Unebenheit, die sich im ersten Moment dem Betrachter nicht gleich erschloss. Auf Höhe ihrer Brust schien der sonst gleichmäßige Abstand beider Stoffseiten nicht symmetrisch zu sein. Ohne weiter darüber nachzudenken konzentrierte sich der Besucher auf seine Hände, die er beruhigender Weise auf den Knien ablegte. Ein Blick in die Ferne erschien von hier aus einfacher. Doch dies gelang ihm nicht besonders gut. Unregelmäßigkeiten und Verbotenes beäugte er in seinem Beruf sehr argwöhnisch, um es schließlich mit konsequenter Hingabe zu beseitigen. So nahm ihn diese augenscheinliche Ungleichmäßigkeit gefangen und er wünschte sich mit dem Verstreichen der Minuten, diese wenigstens zu erkennen.
Die Dame schien sich überhaupt nicht um ihren Sitznachbarn zu kümmern, sondern beugte sich gerade in diesem Moment ein wenig vor, um aus dem Kännchen heißen Kaffee nachzuschenken. So offenbarte diese Bewegung die Unstimmigkeit der Situation. An ihrem Dekolleté schien der kleine Silberknopf nur noch an einem einzigen Faden Halt zu finden. Völlig gebannt starrte der Besucher auf seine Hände, um wenigsten einen höflichen Anschein zu wahren, doch seine Augenlieder flatterten. Es erforderte ein fast unmenschliches Konzentrieren, um den Blick von diesem kleinen Knopf abzuwenden, der in seiner Spiegelung das gesamte Bild der Situation offenbarte.
Mit jeder Minute nahm das Plätschern des Wassers für den angespannten Mann in seiner Intensität zu. Noch hielt der Faden diesen Druck, der durch das Anheben des Armes der Dame verstärkt auf ihn einzudringen schien. Der Betrachter spürte die ersten Schweißperlen auf seiner Stirn, die er der starken Mittagshitze zuschrieb. Sein eigener Kaffee stand nun vor ihm, aber er konnte sich nicht bewegen. Nicht nur die äußere Hitze lähmte seinen Körper; er bemerkte Unruhe in seinem Inneren. Er saß hier zur Erholung und fühlte sich dennoch angespannt. Niemand nahm davon Notiz, niemand bemerkte die herumschwirrenden Energien in der Luft.
Die Dame beugte sich nun nochmals vor, so dass die beiden Stoffhälften ein klein wenig auseinander klafften. Der Besucher schloss aus Anstand und -vielleicht auch ein wenig aus Eigenschutz- für einen kurzen Moment die Augen. Er beschimpfte sich selbst einen viel zu sensiblen Mann, der sich vielleicht einen schönen Anblick nahm. Wie dumm von ihm! Mit einem leisen Seufzer bedauerte er sich selbst und goss sich endlich von seinem Kaffee etwas in die Tasse. Langsam führte er das wohltuende Getränk an die Lippen und wagte, fast ganz nebenbei, einen kurzen Seitenblick. Hustend fing er im nächsten Moment die ersten verschütteten Kaffeetropfen mit der bloßen Hand ab, denn seine Sitznachbarin streckte sich gerade in dem Moment der Betrachtung nach der etwas entfernten Zuckerdose und legte dabei ihren Oberkörper auf die übereinander geschlagenen Beine.
Der bereits fragil erscheinende Faden unterlag einer erneuten Reißprobe, die er anscheinend in den nächsten Sekunden nicht mehr überstehen würde. Ohne es selbst zu bemerken, hielt der Betrachter den Atem an, verzichtete für wertvolle Sekunden auf das Einatmen und schien das Fortlaufen der Zeit nicht mehr als solches erkennen zu können. Noch immer hielt er seine Tasse, um schließlich schmerzhaft das Verbrennen der Haut zu spüren, das ihn doch kaum berührte, denn etwas viel Wichtigeres nahm seinen Blick ein. Er konnte sich nicht mehr wehren; die Bewegungen seines Gegenübers bannten ihn in all ihren Einzelheiten.
Ohne Vorwarnung sprang der Knopf befreit von seinen Fesseln in die reaktionsschnell aufgehaltene freie Hand des Herrn. Mit dem ersten Blick betrachtete der Fänger seinen Fund, doch der zweite führte ihn ohne bewusste Absicht zu seinem Gegenüber.
Die Trägerin des Kleides schien von diesem unfassbaren Vorgang überhaupt nichts bemerkt zu haben. Sie saß immer noch nach vorn gebeugt und versuchte mit dem kleinen Greifer ihr Zuckerstück zu erfassen. Die beiden blauen Stoffhälften des Kleides würden sich trennen, sobald die Dame sich wieder aufrichtete.
Mit einem hektischen Sprung warf der Herr die halbvolle Tasse Kaffee in den Sand und berührte so vorsichtig er konnte die Schulter der Dame. Er bat sie mit stockender Stimme, sich bitte nicht zu bewegen. Mit der nicht ganz ruhigen anderen Hand hielt er ihr den aufgefangenen Knopf zur Betrachtung vor ihre irritierten Augen. Dieser spiegelte die grünen Augen der Dame in einem geheimnisvollen gleißenden Licht. Ein Lächeln umspielte ihren Mund bis ein eindeutiges Freuen die blau-grauen Augen des erstaunten Herrn trafen.
„Ich glaube, ich möchte sie kennenlernen“, sagte sie und richtete sich nun auf. Ihre linke Hand hielt den Stoff an der Stelle des abgerissenen Knopfes zusammen. Ihr Lächeln wurde intensiver und in einem provokanten Moment ließ sie einfach die Hand sinken.
In der Stille der Mittagshitze hörte die Dame den Herrn tief Luft holen. Einen kleinen Augenblick später vernahmen auch die anderen Gäste sein wirklich sympathisches Lachen. Kunstvolle Spitze zierte die Haut und sperrte somit jeglichen fremden Blick aus. Er schaute auf den kleinen Silberknopf in seiner Hand:
„Er wäre ja gar nicht nötig gewesen.“
Mit einem Augenzwinkern erwiderte sie: „Ich weiß.“
Herrlich! Ich war selber so gespannt, dass ich nicht schnell genug lesen konnte und hatte das untrügliche Gefühl von spritzenden Wassertropfen auf der Haut!
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Wie schön! Danke 🙂
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