Tore sind einfach da; im Grunde sind sie immer offen, wir müssen nur an sie herantreten, um Neues zu entdecken. Am letzten Wochenende besuchte ich ein Seminar in Frankfurt. Ich kannte dort niemanden, doch das machte nichts. Die Aikido-Welt besaß unzählige Türen, Tore und Portale. Freude, Interesse und Leidenschaft waren die Eintrittskarten, egal ob sich ein Aikidoka in Hamburg, New York oder Kapstadt aufhielt.
Ich saß im Seiza vor unserem Lehrer und betrachtete den Raum, das Licht und die Hände meiner neben mir Sitzenden. Die Stille des Momentes fiel in mich hinein und schloss meine Augen. Das damit verbundene Absinken der Hüfte entspannte sofort meinen Körper; ich fühlte mich aufgehoben, klar und auf meine Mitte fokussiert.
So begann der Unterricht mit einem Lächeln des Lehrers, der die vor ihm sitzenden Schüler betrachtete. Sein Blick blieb an einem kleinen Jungen hängen. Er winkte ihn zu sich. Völlig ruhig und ohne Hast korrigierte er den Anzug. Pascal erklärte ihm die Bedeutung der in verschiedene Richtung zeigenden Gürtelenden. Nach oben bedeutete es „life“ und nach unten „death“. Da beide Enden nicht nach oben zeigen konnten, wurde der Gürtel so gebunden, dass die Enden zu den Seiten lagen. Außerdem würde ein Mann nicht die rechte Seite seines Gi nach oben legen, damit beim Schwertziehen der Knauf nicht hängen blieb. Ich musste lächeln, Frauen ging es bestimmt nicht anders.
Der kleine Junge verstand kein Englisch und trotzdem sah ich in seinem Gesicht, dass er sehr wohl das Wesentliche erfasste und der Erklärung aufmerksam folgte. Die Ruhe und der absolute Fokus des Lehrers ließ ihn begreifen; es war egal, dass eigentlich der Unterricht beginnen sollte, es war egal, dass viele zusahen und zuhörten. Es war nur wichtig, dass ein Lehrer erklärte und der Schüler Acht gab … vollkommen.
So verflogen Stunden des Unterrichts, denn Zeit schien nicht bedeutsam zu sein, sie war immer genug vorhanden. Nicht nur spannende Techniken mit neuen Aspekten wurden uns vermittelt, sondern vor allem Prinzipien, die in der Kampfkunst das Wesentliche trugen.
Wir übten an einer Technik, die mit dem Erfassen beider Handgelenke des Gegenübers (Ryote-tori) ausgeführt werden sollte. Bevor wir überhaupt dazu kamen, sprach Pascal über das ihm Wesentliche, das uns in jeder Bewegung als tragenden Gedanken begleiten sollte:
Life is in front!
Wenn ich mich mit einem anderen Menschen beschäftigte, sei es Freund oder Feind, dann sollte dieser meinen absoluten Fokus bekommen; beginnend mit der ersten Sekunde bis zur letzten, ohne Ausnahme. Es waren nur wenige Worte. Jedes Einzelne und auch der kurze gesamte Satz waren an sich eingängig. Ich sah sie vor meinem inneren Auge und sah sie doch nicht, denn sie trugen mehr, als ich in diesem beschäftigten Moment überhaupt aufnehmen konnte.
Manchmal bemerkte das Innerste, dass dem so war, konnte es aber nicht in Worte fassen, sie wären immer nicht richtig. Erst irgendwann erschien eine Ahnung am Horizont und führte den Denkenden mit dem Innewohnenden davon. Worte waren magisch, denn sie trugen nicht nur Informationen, sondern Energie, die bei Berührung verändern; jedes einzelne. Es war kein Vorgang, den wir bewusst wahrnahmen, außer wir schenkten ihnen wirklich unsere Aufmerksamkeit. So tun wir gut daran, darauf zu achten, welche Worte in uns versinken, denn sie verändern uns.
Völlig konzentriert arbeiteten wir an einer Technik, die besondere Schwerpunkte berücksichtigt haben wollte. Es war nicht immer einfach, das Wirrwarr der Hände und Füße zu entflechten. Pascal unterbrach uns. Seufzend stoppte ich mein Üben; ich war noch lange nicht da, wohin ich wollte. Unser Lehrer verbesserte nun nicht unsere Versuche in der Umsetzung; er verbesserte unsere Herangehensweise. Erklärend erfasste er die Handgelenke eines Schülers. Dies wäre unser Ziel: Wir ergriffen die Hände des Anderen, nicht mehr oder weniger, doch alles was darüber hinaus geschah, sollte einfach geschehen, denn…
Life is in front.
Wir sollten nicht beschäftigt sein. Wir sollten nicht die Gedanken im Detail verlieren, wir sollten unser Gegenüber wahrnehmen. Pascal verglich es mit der Schule. Unser Ziel sei es, zur Schule zu gehen, doch was darüber hinaus vermittelt wurde, würde sich von ganz allein ergeben.
Ich fühlte mich fast vor eine Wegkreuzung gestellt. Wie konnte ich die Umsetzung einer Technik erlernen, wenn ich mich voll und ganz auf mein Gegenüber konzentrierte? Einen kleinen Moment wusste ich nicht weiter. Ich beschloss die Beantwortung für mich selbst zu verschieben; vielleicht mussten auch nicht immer Antworten da sein, vielleicht galt es auch einfach, sich in das Neue hinein zu werfen und dem Universum den Rest zu überlassen.
So übten wir weiter. Immer wieder fand Pascal Beispiele, um seinen Worten der unbedingten Achtsamkeit Form zu geben: Wenn eine Ausführung der Technik ihr Ende fand, weil der Angreifer am Boden lag oder sich mit einer Rolle in Sicherheit brachte, dann gab es kein vorheriges Wegdrehen, dann gab es kein Abwenden. Unsere Sinne sollten ihm folgen, denn er war kein Mittel zum Zweck, das uns lernen ließ. Er war ein Mensch, der unsere Aufmerksamkeit verdiente.
Am Ende des Unterrichts versanken wir wieder in der Stille. Als ich meine Augen öffnete, fiel mein Blick auf meine Gürtelenden, sie zeigten beide zur Seite. Das war gut, der Rest würde sich finden …
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Trainer: Pascal Durchon, 6. Dan Aikikai
Trainingsort: www.takeshin-aikido.de
Anm.z.Titel:
In Anlehnung an die dritte Strophe eines Songtextes von Carlo Karges (1951-2002), Gründungsmitglied der dt. Rockband Novalis. Er schrieb 1973 „Wer Schmetterlinge lachen hört“ in Erinnerung an ein Werk des dt. Schriftstellers Novalis (1772-1801).
Da der Text einfach wunderbar ist, füge ich ihn bei:
Wer Schmetterlinge lachen hört,
der weiß, wie Wolken schmecken,
der wird im Mondschein
ungestört von Furcht,
die Nacht entdecken.
Der wird zur Pflanze, wenn er will,
zum Tier, zum Narr, zum Weisen,
und kann in einer Stunde
durchs ganze Weltall reisen.
Er weiß, dass er nichts weiß,
wie alle andern auch nichts wissen,
nur weiß er, was die anderen
und er noch lernen müssen.
Wer in sich fremde Ufer spürt,
und Mut hat sich zu recken,
der wird allmählich ungestört,
von Furcht sich selbst entdecken.
Abwärts zu den Gipfeln
seiner selbst blickt er hinauf,
den Kampf mit seiner Unterwelt,
nimmt er gelassen auf.
Wer Schmetterlinge lachen hört,
der weiß wie Wolken schmecken,
der wird im Mondschein,
ungestört von Furcht,
die Nacht entdecken.
Der mit sich selbst in Frieden lebt,
der wird genauso sterben,
und ist selbst dann lebendiger,
als alle seine Erben.