Pingpong

„Die Welt“ ist ein ziemlich großer und vor allem sehr dehnbarer Begriff. Als Drei-Jährige war es meine Familie und der Ameisenhügel in der hinteren Ecke des Gartens. Als 17-Jährige fokussierte sich diese auf den coolen Nachbarjungen und heute besitze ich nicht genug Worte, um dem gewachsenen Blick der vergangenen Jahre irgendwie gerecht zu werden. Auch wenn das In-Worte-Fassen nicht wirklich gelingen mag, so ist es doch immer wieder eine eindeutige unerlässliche Positionierung. Wie leicht sind wir „haltlos“ oder fühlen uns „nicht aufgehoben“ oder empfinden jemanden als „weltfremd“? Wir kennen aber auch das Gefühl „mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen“ oder „das Glück der Welt mit beiden Händen zu erfassen“. Unsere Sprache ist voll von Redewendungen, die den Versuch einer Orientierung formulieren. Obwohl wir so viele Worte benutzen, die diese Beziehung umschreiben, denken wir selten darüber nach, was sie sagt: Wir besitzen eine Verbindung.

Abgesehen von dem essentiell Leiblichen wie Atmen, Nahrungsaufnahme, Gehen, Stehen und Schlafen, abgesehen von diesem, obliegt es immer uns selbst inwieweit wir den Kontakt mit dem Äußeren aufnehmen. Das Gute sowie das Schlechte liegt dann in der Tatsache, dass wir mit Entscheidungen unseren eigenen Weg bauen.

Hartmut Rosa fand in seiner Abhandlung[1] über die Weltenbeziehung auf ziemlich vielen Seiten eine Erklärung über das Miteinander zwischen der Welt und unsere Wenigkeit. Das hört sich langweilig an, aber es ist ein höchst brisantes Thema unserer Zeit: Menschen fühlen sich von den Politikern nicht verstanden und mitgenommen oder sie verspüren keine Verbindung zu irgendetwas, das einem hilft, alle Unbill des Lebens zu tragen. Die moderne, technisierte Welt bleibt „kalt“, da von den in uns liegenden Sichtweisen nur eine genutzt wird. Ein positiver Mensch zieht ganz unbewusst die objektive Welt der Dinge, die soziale Welt der Menschen und die subjektive Innenwelt der Gefühle, Wünsche und Empfindungen in ein großes Gesamtbild zusammen. Die weniger Glücklichen schlugen mit einem Gewaltakt den Zugang zu einer dieser Welten ab. Sie spüren vielleicht nicht mehr die Bedürfnisse des eigenen Körpers, dieser „antwortet“ nicht mehr oder andere Menschen sind für sie „verstummt“, denn niemand scheint sie zu lieben oder eigene großartige Träume sind nicht mehr auffindbar, da sie angeblich im Überlebenskampf verloren gingen.

Unser Kopf scheint immer nur einen Bruchteil von dem zu erfassen, was wirklich existent ist. Der Gedanke frustriert ein wenig. Trotzdem sollten wir nicht aufgeben unser Bestes zu geben. Mit Interesse und Aufmerksamkeit lässt sich alles erschließen. Je mehr wir uns der Welt öffnen können, umso größer wird der Halt sein, den uns „die Welt“ nicht nur verspricht, sondern auch gibt.

Wer musste sich nicht den erzieherischen Überlegungen der Schulzeit ergeben und Fromms „Haben oder Sein“ während der Sommerferien lesen? Wer genoss nicht den Film „Alice im Wunderland“ bis ihm vom Deutschlehrer eröffnet wurde, dass es eine wundervolle Hausaufgabe sei, dies Prachtwerk zu deuten? Der Ansatz zum Verständnis wurde und wird überall immer wieder gesucht, obwohl er sich direkt vor unserer Nase befindet, nämlich bei uns selbst.

So senkte sich Stille über Norddeutschland, weil sich an einem wirklich schönen Nachmittag die beiden großen Hamburger Fußballvereine im Volksparkstadion trafen. Während ich an meiner Kirschlorbeerhecke herum schnippele, schien nicht nur der dahinter liegende Kinderspielplatz völlig verwaist; nichts war in der Nachbarschaft zu hören. Anscheinend spielten beide Mannschaften so schlecht, dass sich selbst das Aufregen nicht einmal lohnte.

Leises Geraschel belehrte mich eines Besseren. Durch die langsam lichter werdende beschnittene Pracht konnte ich schemenhaft den großen Stamm der Eiche erkennen, der mit seiner starken Verästelung als Spielgerät diente. Auf dem obersten Ast saßen zwei Jungen und ließen ihre Beine baumeln. Es waren Mattes und Tom, die in diesem Jahr eingeschult worden sind:

Mattes: „Ich glaub, ich hab Höhenangst.“

Tom schaute ihn skeptisch an: „Zittern dir die Knie? Opa sagt, da zittern einem ganz schlimm die Knie.“

Mattes: „Nee, eigentlich nicht…“

Tom: „Dann haste solch eine Krankheit nicht.“

Die Stille übernahm wieder die Regie und beide Jungen schauten angestrengt nach unten.

Mattes: „Von hier oben ist das ganz schön hoch.“

Tom: „Hmm…als wir von unten hochguckten, da hätte ich fast den Ast berühren können. Das ist nicht so hoch.“ Er setzte sich etwas bequemer hin und hielt sich nun an der Schulter seines Freundes fest. „Von hier oben sieht es so aus, als wenn der Baum gewachsen ist.“

Wieder Stille.

Mattes: „Kann der das noch? Der hat doch keine Wurzeln mehr und keine Blätter…unsere Lehrerin sagte, dass die Bäume das brauchen, sonst können die nicht mehr leben. Die brauchen Erde und Luft.“

Tom antwortete nicht, ihm war der Baum ein klein wenig egal. Er hatte ein anderes Problem.

Wie festgefroren stand ich mit meiner Astschere da und wartete. Eigentlich war es ungehörig, ihrem Gespräch zu lauschen, doch diese Tatsache ignorierte ich jetzt.

Tom: „Ich weigere mich einfach.“

Mattes: „Hmmm, wegen den Füßen, stimmt’s?“

Tom: „Jo, die brennen dann ganz schön und wir wollten nachher noch zum Eismann laufen.“

Mattes: „Du hast recht. Ich weigere mich auch. Wollen wir noch kurz zur Wippe?“

Lächelnd schnitt ich nun an meinem Astwerk weiter. So einfach war es. Wenn die Welt nicht passend war, dann wurde sie dazu gemacht. Ich schaute auf meine Hände, ich hatte keine Handschuhe an; mir brannten die Innenflächen.

Ich hatte kein leckeres Eis im Kühlschrank, aber ich war stolze Besitzerin einer Kaffeemaschine. Wenn „die Welt“ sich meldete, dann sollte ich doch darauf hören, oder?

 

_____
[1] Hartmut Rosa, Resonanz, Eine Soziologie der Weltenbeziehung, Berlin, 2016.