Meine geliebte Feindin

Wir sahen uns und konnten uns nicht leiden. Es beruhte auf Gegenseitigkeit, denn eindeutiger ging es schon nicht mehr. Vielleicht ist das Prinzip ähnlich einem Liebespaar, nur mit anderen Vorzeichen: Ein Blick reichte aus, um das Innerste des Gegenübers zu erkennen und das Wissen über den Anderen in sich zu tragen. Es war nichts allgemein Offensichtliches. Ein Außenstehender würde sich über solch eine Aussage wundern, denn nichts war zu sehen oder zu hören; jedenfalls nicht für den Rest der Menschheit. Doch wir beide wussten es, wir spürten es und wir lebten es. Vielleicht zelebrierten wir mit ein klein wenig Genuss das eigentlich nicht der Norm Entsprechende. Unsere Augen bewegten sich auf einer Höhe. Keiner besaß einen wirklichen Vorteil, aber auch keinen Nachteil, den der jeweils andere ausnutzen könnte.

Kurz bevor ich sie sah, bemerkte ich meine Anspannung. Ich könnte wetten, ihr ging es genauso. Diese leichte Beunruhigung glich einem Vorbereiten für eine Reise. Es waren immer die gleichen Fragen: Hatte ich alles dabei? Stimmte mein Aussehen? War ich vorbereitet? Keine Unsicherheit, kein Fehler, kein Grund durfte mir als Hindernis im Wege stehen; die Waage sollte erhalten bleiben, sonst wäre der Abend ruiniert, einfach so, von vornherein.

In Geschichten waren es die Protagonisten mit ihren Antagonisten, die die Worte bestimmten und dem Geschehen Leben einhauchten. Ein brizzeliges Miteinander ließ den Betrachter genau hinschauen:

Ich hasste mich selbst für das eindeutige Schwarz-Weiß-Denken. Wenn ich Anna sah, dann sah ich dunkles Haar statt blondes, dann sah ich blaue Augen statt grüne und ich sah den eindeutigen Willen die Welt für sich einzunehmen. Dies geschah auf eine Art und Weise, die mir jedes Mal in ihrer Nähe das Gefühl gab, dass der von ihr betretene Boden für niemand anderen mehr verfügbar schien. Sie nahm und gab kein Stück mehr davon ab. Es war ein Kaufen der Straßen beim Monopoly ohne das freundliche Zugeständnis, selbst eine Straße an den Anderen zu verkaufen, damit dieser den Straßenzug sein Eigen nennen durfte. Wie konnte sie von Anderen nehmen und doch nicht selbst geben? Was veranlasste sie zu der Annahme, dies wäre der Lauf der Dinge und somit unumstößlich?

Ich sah sie durch die Gruppen gehen, wenn wir uns auf einer Party sahen. Ich wusste ziemlich genau, wo sie sich befand und ich könnte wetten, ihr ging es genauso. Wenn sie lachte, drehte sie sich ein wenig nach hinten und ihre Grübchen, die wirklich besonders nett aussahen, kamen dabei gut zur Geltung. Sie besaß dadurch etwas Mädchenhaftes, das mir als Mann gefallen hätte. Ich stellte mir so Pippi Langstrumpf vor, wenn sie von der Dorflehrerin besucht wurde, weil sie eigentlich an dem Unterricht teilnehmen sollte. Ich hätte auch gerne diese Grübchen, auf alle Fälle statt der Sommersprossen, die wahrscheinlich noch in meinem hundertjährigen Gesicht ihren Unfug trieben.

Standen wir durch Zufall gemeinsam in einer Gruppe, dann ignorierte sie mich, als stünde an meiner Stelle die Eiserne Säule aus Delhi; na, vielleicht war es doch kein guter Vergleich. Die Säule besaß Sanskrit-Inschriften, diese würde sie lesen wollen. Eines musste ich ihr lassen, ihr Wissen über die Dinge der Welt war immens und gab ihr etwas Schillerndes.

In den Stunden einer Party umkreisten wir uns wie Löwinnen in der Savanne. Immer wieder entzogen wir uns einer möglichen Konfrontation, indem wir bei räumlicher Nähe die Gespräche so umleiteten, dass ein anderer Gesprächspartner im jeweiligen Fokus stand. Doch irgendwann zogen uns wohl die übergeordneten Gesetze zueinander. Bisher schafften wir es ein einziges Mal, dass wir auf einer Party nicht aneinander gerieten, doch daran kann ich  mich kaum erinnern.

„Hey Stine, auch hier? Du bist mir gar nicht aufgefallen…“ Lügnerin, ihren Blick spürte ich schon seit Stunden in meinem Rücken.

Ich lächelte und grinste sie an: „Na, ich sah dich schon vorhin auf der Tanzfläche, als du versuchtest mit dem Blondling zu tanzen.“

Mein Gegenüber nahm es ziemlich selbstbewusst, weil sie ganz genau wusste, dass sie sich fantastisch bewegen konnte und die Blicke Einiger währenddessen auf sich zog. Süffisant lächelnd drehte sich Anna wieder weg. Der Abend war eröffnet.

Zu jeder guten Party gab es ein kleines Buffet. Heute befand sich dieses in einem etwas ausgelagerten Teil des Hauses, der ein wenig in den Garten verlief. Die Fenster standen sperrangelweit offen und ließen einen angenehmen Luftzug in die bereits etwas stickigen Räume wehen. Teller mit kleinen Häppchen und Obst boten sich dar; die Platten sahen bereits ein wenig gerupft aus, aber das eine oder andere warf sich trotzdem förmlich meiner Aufmerksamkeit entgegen. Genussvoll nahm ich von Jedem etwas. Ich hatte seit gefühlten Ewigkeiten nichts mehr gegessen und tanzte bereits seit einer Stunde herum, mehr Gründe brauchte ich nicht.

„Oha, da hat jemand Hunger…so spät noch?“ Na klar, Anna war mir gefolgt. Ich konnte es mir nicht verkneifen und meinte augenzwinkernd:

„Es gibt halt Menschen, die es sich leisten können…“ Als ich es sagte, wusste ich ganz genau, dass es nicht die richtige Formulierung war.

„Stimmt. Und manche nicht…“ Sie schaute mich grinsend an, hob ihr Glas mit irgendeinem Mischgetränk und sah währenddessen auf mein Gesicht. Ich schaute sie ebenfalls an, konnte aber nicht schnell genug reagieren. Drei Wespen saßen auf dem Rand ihres Glases und fühlten sich akut bedroht. Alles ging furchtbar schnell.

Als der Krankenwagen kam, sah Anna bereits nicht mehr wie Anna aus. Ich wusste nichts von ihrer Allergie. Bevor sich die Tür des Rettungswagens schloss, schaute der Sanitäter noch kurz heraus.

„Gibs hier eine Stine?“ Überrascht schaute ich auf. Als ich neben ihr im Wagen saß, bekam sie bereits etwas gespritzt, um die beginnende Atemnot aufzuhalten.

Mitten in der Nacht saß ich nun im Krankenhaus neben einem Häufchen Unglück und wunderte mich immer noch, dass gerade ich ihr Gesellschaft leisten sollte. Ich fragte aber nicht. Wir schwiegen und warteten auf Besserung. Auf dem Flur hatte ich einen Kaffeeautomaten gesehen.

„Möchtest du auch einen Kaffee?“ Anna nickte.

Als ich bewaffnet mit zwei Bechern wieder an ihr Bett trat, hörte sie gerade über Kopfhörer Musik von ihrem Handy.

„Was hörst du?“

„Hier..“ Sie hielt mir einen Knopf ihres kleinen Kopfhörers hin. Statt der von mir erwarteten Pop-Musik erklangen melodische Klaviertöne, die mir irgendwie bekannt vorkamen. Ich betrachtete Annas Gesicht, als sie mit geschlossenen Augen in der Musik versank. Sie sah schrecklich aus und ich hoffte wirklich inständig, dass das Gegenmittel bald anschlagen würde. All meine Empfindungen des Abends waren wie durch Zauberei weggewischt. In diesem Moment fragte ich mich wirklich, warum wir beide seit Jahren dieses Spiel trieben. Was veranlasste uns, ständig am Rande einer verbalen Verletzung herumzutänzeln?

Ohne die Augen zu öffnen, flüsterte Anna: „The Last Unicorn…“

Jetzt erkannte ich die Melodie: „Traurig und wunderschön…“, sagte ich.

Anna öffnete ihre geschwollenen Augen: „Traurig und wunderschön…“, wiederholte sie.

Wahrscheinlich konnten wir beide in diesem Moment nicht wirklich sagen, was wir genau damit bezeichnen wollten; es war nicht nur die Musik.

Ein erklärter Feind reizte uns bis ins tiefste Mark, riss Wunden auf und heilte sie mit seiner Aufmerksamkeit, stellte das Handeln in jeder Hinsicht in Frage und suchte nach schwachen Stellen, die er bereits von sich selber kannte. Er besaß mit der Zeit eine selbstgezeichnete Landkarte seines Gegners.

So manch einer würde dazu „Freundschaft“ sagen.