Ein Schlüssel auf der Matte

Jetzt kaute ich seit Tagen auf diesem Satz herum. Immer wieder lief er quer durch meine Gedanken. Er gehörte zu der Kategorie, die den Denkenden nicht in Ruhe ließ, da er gleich einer Synapse ungesehen Verbindungen herstellen konnte. Das Ganze glich dann einer Unterwanderung des bisher mühsam gestrickten Weltbildes, das mich irgendwo enthielt.

Ich übte mit einer erfahrenen Aikidoka an einer Version einer Technik, die den Impuls des Angreifers mit aufnahm, ihn über einen bestimmten Punkt hinweg führte, ein klein wenig beschleunigte und den Heranstürmenden damit die eigene Kontrolle über seinen Körper nahm (Kokyu-nage). Die Kokyu-nages gehörten zu meinen Lieblingstechniken, da ich sie immer als sehr lebendig empfand; manchmal glich das Training dann eher einem Herumtollen, einem spielerischen Herausfinden der vorhandenen Grenzen, die sich im Miteinander nahezu auflösen konnten und nur noch etwas vage im Raum schimmerten; unsichtbar, da fast nicht mehr existent.

Bei diesen kurzen Techniken besaß jeder noch so kleine Aspekt seine Wichtigkeit, die sich manchmal nur durch tausendfache Wiederholungen erschließen wollte. Selbstverständlich gab es einen Rahmen, den der Lehrer seinen Schülern weitergab. Wurde dieser erst einmal erfasst, dann begann oftmals das eigentliche Herantasten an das Wesen der Dinge, das der Ausführende nur ganz allein fand.

War das Bewusstsein für das Vorhandensein von durchschreitbaren Toren geweckt, dann galt es etwas Fassbares in die Hand zu nehmen, das den Geist und das Gefühl in einer Hand umschloss: Mit dem zusammengeführten Yin und Yang öffnen wir die Geheimnisse dieser Welt. Wer vermag zu sagen, wie viele noch auf uns warten? Ich bin davon überzeugt, dass wir nicht einmal einen Hauch einer Ahnung besitzen, der die Mannigfaltigkeit der zu entdeckenden Mirakel dieses Universums umschriebe.

Als ich mich an der Technik probierte, bestätigte mir meine Trainingspartnerin die Richtigkeit meiner Ausführungen. Und trotzdem … etwas stimmte nicht. Ich versuchte mich zu erklären. Sie sah mich einen Moment an, lächelte und nickte.

„Du musst nun noch die Verantwortung dafür übernehmen …“

Wenn wir das Wort „Verantwortung“ benutzen, dann meinen wir oft, dass wir uns die Verpflichtung aufbürden, für die Folgen aufzukommen, egal welcher Art diese sind. Sehe ich es aus diesem Aspekt, dann war mein Handeln, meine Ausführung der Technik, der Grund für das Ergebnis. Nun gut, das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Meine Trainingspartnerin flog dem von ihr gegebenen Impuls hinterher und landete auf der Matte. War es das?

Jein … Sie meinte hier Verantwortung im Zusammenhang mit dem Wissen, dass nicht nur mein Handeln eine bestimmte Auswirkung besaß. Der Fokus lag noch tiefer: Sie meinte das Bewusstsein über die eigene Möglichkeit, den Dingen ihren Lauf zu geben. Diese Metapher besaß in diesem Zusammenhang ihr eigenes Bild: In der Ausführung eines Kokyu-nages gab ich tatsächlich dem Angreifer seinen Lauf. Es lag ganz und gar in meinem Handeln wie mein Ergebnis aussah, unabhängig von meinem Gegenüber. Wenn ich mir der umfangreichen Möglichkeiten meines Handelns bewusst bin, dann weiß ich auch, dass ich diese nur ergreifen muss. Sind diese bei einem ungeübten Partner eingeschränkt, dann muss mein Handeln sich darauf einlassen und sich dementsprechend verändern.

Das Wort „Verantwortung“ beinhaltet das Wort „Antwort“. So stellt ein Angreifer mir mit seinem Impuls eine Frage und ich beantworte diese nach besten Wissen und Gewissen. Mein Handeln stellt mich somit inmitten des Weltgefüges, das mich dann weiter trägt. Wir sind es immer selbst, die sich eine Welt auf eine bestimmte Art und Weise zusammenfügen. Haben wir dies wirklich erkannt, dann besitzen wir das, wonach wir suchen und es doch manchmal fürchten:

Freiheit

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Trainingsort: http://aikido-kaltenkirchen.de/