Überall auf dieser Welt passierte es, sei es im Vergangenen oder Zukünftigen, sei es in Geschichten oder Realität, Energie konnte aus dem Nichts geschöpft werden:
Der Himmel hing tief. Wenn ich nicht aufpasste, würden die dichten Wolken mein Gemüt berühren oder anders ausgedrückt: Mir würde der Himmel auf den Kopf fallen. In Frankreich gab es vor Urzeiten Menschen, die sich davor fürchteten. Das konnte ich gut verstehen; was berührte, besaß auch die Möglichkeit zu verschlingen.
So betrachtet war ich eine Gallierin. Ähnlichkeiten mit den dortigen Gegebenheiten schienen vorhanden: Ich liebte den Wald, ich liebte Wildschweine, doch ich aß sie nicht. Diese Tiere rochen lebendig etwas streng (abgesehen vom Geruch, würde ich nichts essen, was ich vorher einem Namen gab); kämpfende Römer waren hier in Schleswig-Holstein rar gesät, doch ein stures, unbedingtes Durchboxen einer einmal festgelegten Norm, das eingeschränkte Blickfeld und ein ständiges Verdammen des nicht der Norm Entsprechenden fand sich auch hier.
Die tiefhängenden Wolken hielten sich nicht mehr zurück. In Nullkommanichts gab es ein Gewitter und die Sonne zeigte sich sehr bald wieder von ihrer sommerlichsten Seite. Natürlich könnte ich nun dösend mit einem Kaltgetränk den Schatten genießen (was ich auch ab und zu tat), doch seit dem Frühjahr schlug ich der inneren Trägheit ein Schnippchen und hielt brav meinen Laufplan ein. So lief ich fast täglich zur späteren, etwas kühleren Stunde durch einen kleinen Nachbarort und erlebte dadurch hautnah deren Aktivitäten.
Anfänglich hielt ich das tägliche Zusammentreffen der Bewohner am Ortsausgang für ein Sommerfest, das ständig wiederholt wurde. Alt und Jung wuselte am Straßenrand herum. Die älteren Herrschaften saßen auf Campingstühlen zusammen oder gleich –ganz praktisch- auf ihrem Rollatoren. Ich sah Mütter mit Kinderwagen, Jugendliche mit ihrem Handy, Nachbarn mit einem Bier in der Hand oder auch geschäftig Wirkende, die anscheinend irgendetwas organisierten.
Wenn ich in den Ort hineinlief, sah ich auf der linken Seite noch Mais- und Kornfelder und auf der rechten Seite standen direkt hinter dem Ortseingangsschild die ersten Häuser und eine kleine Straße schlängelte sich nach rechts weg. Aus Datenschutzgründen taufe ich jetzt diesen Weg kurzentschlossen mit dem Namen „Birkenweg“.
Ich muss gestehen, meine Neugier überwältigte mich nicht erst am fünften Tag. Beim ersten Vorbeilaufen und fröhlichen Grüßen sortierte ich die Ansammlung unter „Straßenfest“. Da aber Straßenfeste höchstens zweimal im Jahr stattfanden, konnte ich diese Zusortierung am darauffolgenden Tag nicht vornehmen. Eine ältere Dame wartete gerade an meinem höchstpersönlichen Lauf-Wendepunkt und bot sich als Informantin geradezu an.
„Moin, hier ist ja einiges los….feiert der Ort Geburtstag?“
Sie schaute mich an, zeigte auf ihre Ohren und lächelte entschuldigend. Die Kommunikation klappte auch nonverbal. Ich verstand was sie meinte und wollte gerade wieder den Rückweg beginnen, als die Dame mit ihrem Krückstock ausholte und gegen die Laterne hieb, die seit Wochen mein Zwischenziel signalisierte. Ein laut vibrierender Ton legte sich über den allgemeinen Lärmpegel und als Wiederhall hörte ich eine Antwort aus der Menge:
„Ich komme gleich, Oma!“
Zufrieden lächelte die Verursacherin erneut. Ein junger Mann kam aus der Menge gestürzt und seine Oma zeigte mit ihrem Krückstock auf mich; keine Frage, die Kommunikation lief hier auch. An diesem Punkt angelangt, empfand ich die Situation ein wenig peinlich, schließlich outete ich mich gerade als eine ziemlich neugierige Person UND hielt wegen dieser schon etwas fragwürdigen Charaktereigenschaft einen beschäftigten Menschen eindeutig von seiner Arbeit ab.
„Das ist mir jetzt doch ein wenig unangenehm… ich fragte ihre Großmutter nur, was sie heute denn feiern…“ Zum Glück passte die aufsteigende Röte in meinem Gesicht zu den bisher gelaufenen 5 Kilometern.
Etwas außer Atem winkte der junge Mann ab, schaute mich an und lächelte.
„Du bist aus dem Nachbarort, oder?“ Ich nickte. „Dann komm mit.“
Er ergriff einfach mein Handgelenk, bugsierte mich durch die herumstehenden Menschen, sagte ab und zu „tschuldigung“, schlängelte sich gemeinsam mit mir durch ziemlich eng beisammen stehende Nachbarn und blieb schließlich abrupt vor zwei anderen jungen Männern stehen, die gerade trotz der Wärme mit Schaufeln bewaffnet ein Straßenschild ausgruben. Der Enkel der netten Oma ergriff einen Spaten und half den beiden bereits schwitzenden Arbeitern. Etwas unsicher stand ich nun vor ihnen und wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Also tat ich das, was ich am besten konnte, ich fragte:
„Kann ich helfen?“
„Nee, danke.“
„Darf ich fragen, was ihr so macht?“
„Jup“
Nun musste ich doch lachen, die Situation war einfach zu grotesk. Ich überlegte mir gut, wie ich die weiteren Fragen stellte.
„Warum grabt ihr denn das Schild aus?“
„Weil es hier nicht hingehört.“
Herrje, hier wurde ich echt gefordert…hinter mir stand eine junge Frau und tippte mir kurz auf die Schulter.
„Auch was zum Trinken?“ Dankbar nahm ich ihr das Glas aus der Hand und kippte es fast in einem Zug hinunter. Ein Mischgetränk mit Apfelsaft oder so, wirklich lecker und sehr erfrischend mit Pfefferminzblättern, die nun einsam am Boden des Glases mit den übrig gebliebenen Eiswürfeln schwammen.
Das Ortsschild wurde in diesem Moment aus dem Boden gehoben. Ein kleiner Zementblock umfasste den Fuß und war anscheinend etwas schwerer zu heben, so dass zwei der jungen Männer gemeinsam diese Aufgabe übernahmen. Die bisher kargen Auskünfte veranlassten mich nun, mich der jungen Frau zuzuwenden, die mir sogleich ein zweites Glas im Austausch anbot. Binnen weniger Minuten kannte ich die aktuelle Geschichte des Dorfes.
Gleichgesinnte Gemüter kämpften für das Dorf-Wohl, das ihnen durch Gesetzes-Zwänge genommen werden sollte. Es existierte anscheinend eine Bestimmung, die besagte, dass ein Ort erst offiziell dann begann, wenn beidseitig die Bebauung vorhanden war. In diesem Ort war es seit Jahr und Tag anders. Das Amt bemerkte es nun plötzlich und setzte das Ortsschild viel weiter in den Ort hinein. Dadurch lag der Birkenweg außerhalb des Ortes und somit auch außerhalb der 50 km/h-Regelung. Hier wohnten Familien mit Kindern, mehr muss man nicht sagen. Ich konnte die Bewohner verstehen. So wanderte das am Tage vom Amt gesetzte Schild am Abend fast wie durch Magie wieder an den alten Platz.
Da kamen natürlich Fragen auf. Wo darf der Staat noch bestimmen und wann sollten, nein, müssen wir uns wehren, damit die innere Ordnung des eigenen Lebens nicht zu sehr beschnitten wurde? Ist jedes Gesetz, ist jede öffentliche Anordnung immer und zu jeder Zeit gerecht oder sinnvoll? Waren die Grenzen immer klar? Ganz bestimmt nicht, deshalb wurden Gesetze ja immer wieder neu angepasst. Dieser Weg erschien den Dorfbewohnern aber zu lang. Deshalb die fast tägliche Dorf-Fete und deshalb die Oma am Rande des Geschehens. Sie kannte alle Dorfbewohner. Sobald ein Fremder das Dorf betrat, wurde ziemlich schnell der Laternenmast bemüht, damit die örtliche Polizei nicht in Zivil dem arbeitenden Jungvolk eventuell eine Ordnungswidrigkeit nachweisen konnte.
Wenn die Bereitschaft, das Unglaubliche für möglich zu halten, einem tief verwurzelten Gefühl entspricht, wenn die Verbundenheit im Miteinander durch einen gemeinsamen Feind zelebriert und genossen wird, wenn wir die Fähigkeiten Einzelner darin mit einschließen, dann besaß eine Gemeinschaft all das Große, Klare und Alles-Bekämpfende, deren sie möglich war.
Ziemlich viele „Wenns“, doch sind diese nicht unser Mistelzweig, den wir für einen Zaubertrank benötigen?
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Anm. z. Text: Das Drumherum ist ein klein wenig Erzähl-Konfetti, aber es gab wirklich dieses Dorf und es gab auch wirklich diese abendlichen Zusammenkünfte und es gab auch wirklich meinen Lauf-Plan (inwieweit ich diesen erreichte, verschweige ich jetzt aber). Nach unzähligen „Umsetzungen“ des Ortsschildes, ergab sich das Amt dem Willen der Bewohner. Eigentlich fast schade, die Stimmung war echt cool.
Wissenswertes:
Weil die Menschen sich früher nicht erklären konnten, wie Misteln (Viscum album) in die Wipfel der Bäume kommen, glaubten sie, Götter hätten den Samen vom Himmel fallen lassen https://www.abendblatt.de/ratgeber/garten/article122923647/Die-Pflanze-die-Asterix-und-Obelix-Zauberkraefte-gab.html
Ja, eine köstliche Vorstellung, mal der Behörden-Willkür zu widersprechen, und wie schon angemerkt: tatsächlich geschehen:
https://www.abendblatt.de/region/article119302244/Dorfposse-Der-Schilderkampf-von-Winsen.html
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Und der Fortgang ist nicht minder kurios:
http://www.kn-online.de/Lokales/Segeberg/Erstes-Urteil-im-ewigen-Streit-um-das-Ortsschild-in-Winsen
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Das ganze Dorf war auf den Beinen…einfach klasse. Mir gefiel die Gemeinschaft und Ausdauer. 🙂
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Eine wirklich schöne Geschichte! Würde mich freuen bald weitere solcher Geschichten von dir zu lesen!
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Vielen, vielen Dank! Ich freue mich 😀
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