Das Licht, dem ich folge

Sollte ich es wirklich tun? Einen kleinen Moment zögerte ich noch. Meine Hand lag auf dem Griff zur Terrassentür. Ich befand mich im dunklen Wohnzimmer; nur ein kleines Teelicht stand auf dem Tisch und ließ die Schemen der Möbel erkennen. Kein Wunder, ich stand immerhin schon eine gute halbe Stunde in diesem Dämmerlicht mit meinem klopfenden Herzen. Die Augen hatten sich bereits gut an das wenige Licht gewöhnt. Mit dem Verstreichen jeder Minute nahm ich meine Umgebung immer deutlicher wahr. Doch meine Gedanken waren draußen vor der Tür im Dunkel des Waldes;  keine zwanzig Meter vor meiner Haustür begann er.

Niemand war zuhause, niemand konnte mich zurück halten und niemand würde davon erfahren. Ich wäre zurück, bevor irgendwer etwas merken würde. Langsam drückte ich den Griff der Tür herunter. Das leise Knarzen schien mir lauter als sonst. Irgendwann würde ich das Schloss mit Öl behandeln, doch nicht heute. Heute sollte alles Übrige in gewohnten Bahnen verlaufen. Mein Vorhaben war mir neu genug.

Ich kannte den Weg wie meine Westentasche; ich kannte ihn zu allen Jahreszeiten, zu allen Tageszeiten und in schönen wie auch traurigen Zeiten, denn es war mein Weg; angelegt mit Steinen und Mulch; er war weich zu gehen. Heute hatte ich mir eine Aufgabe gestellt. Nein, das stimmte nicht. Nicht heute, die Aufgabe gab es gefühlt schon länger, doch heute nahm ich meinen Mut zusammen und setzte meine Füße, einen nach dem anderen, erst in meinen Garten und dann ein Stückchen weiter. In meiner Hand hielt ich das Teelicht vom Tisch, denn der Mond zeigte sich immer noch nicht. Ich hätte auch eine Taschenlampe nehmen können, doch diese wäre nicht richtig gewesen. Kerzenlicht fügte sich zu dem Uralten; es passte zu dem, was heute Nacht in meinen Gedanken stand.

Die Luft war noch milde von dem heißen Tag. Im diffusen Grau des Nachthimmels sah ich kleine Fledermäuse herumfliegen. Es waren die ganz jungen, noch ganz zart und unbedarft. Sie begrüßten mich als einen Teil der Dunkelheit. Gerade wollte ich meinen Grund und Boden verlassen und stockte. Ich stand still, wie der Hobbit, der noch nie einen Schritt weiter über diese Grenze ging. Für ihn begann ein neues Leben, da das Grün jenseits des Gewohnten gänzlich anders aussah; für mich auch.

Vorsichtig setzte ich mein kleines Licht auf den Boden und stand einen Moment still. Leises Zirpen begrüßte mich, Rascheln im Unterholz kündigte die Igelfamilie an, die nachts immer die Leckereien aus meinem Garten holte; die Kleinen würden bald ihre eigenen Wege gehen, aber noch wuselten sie um ihre Mutter herum, die die Führung übernahm. Ohne nach unten zu sehen, streifte ich meine Sandalen von den Füßen und stand damit barfuß auf meinem Mulch. Er fühlte sich noch ganz weich an, ich hatte ihn mit weiser Voraussicht heute über Tag neu ausgebracht; wahrscheinlich wusste mein Innerstes bereits, was ich wirklich vorhatte. Gut, dass es mein waches Bewusstsein auch langsam in die Pläne einweihte.

Ich machte mich dadurch verletzlicher, aber ich spürte den Boden. Ich spürte die Erde und ich spürte das, was ich suchte. Barfuß kam ich langsamer voran, da ich jeden Schritt immer erst ein klein wenig erfühlte, als wäre ich auf der Matte mit dem Schwert in der Hand und würde meinem Gegenüber die Standfestigkeit nehmen wollen. Der Fokus war der Gleiche; ich war konzentriert und befand mich mit jedem Zentimeter genau dort und nirgendwo anders.

Die Geräusche der Nacht waren mir nicht fremd; wie oft saß ich im Dunkeln und hörte sie alle. All die Geschöpfe, die das Helle scheuten und nur in der Nacht sich sicher fühlten. Jedem das Seine. Ich mochte das Licht und genoss trotzdem die Dunkelheit, wenn mich mein Auge nicht mehr von dem Eigentlichen ablenken konnte. Alles besaß seine Zeit.

Gleich kam der schräge Baum, hier führte der Weg in eine scharfe Kurve. Mein kleines Licht war verlässlich und zeigte mir rechtzeitig die Richtung. Ein Fuchs schaute überrascht auf und blitzte mir seine Augen entgegen. Mit einem Rascheln des Unterholzes entfloh er meinem Hiersein.

Jetzt ging es noch gut zwanzig Schritt nach vorn. Ich folgte der Eichenreihe, die irgendwann von dem alten Förster noch gepflanzt worden war. Er lebte nicht mehr, doch sein gegerbtes Gesicht war mir noch sehr in Erinnerung; er konnte mit der Nase wie ein kleines Häschen zucken. Das schaffte ich bis heute nicht. Beim Vorrübergehen streifte ich mit der freien Hand die Rinde der dunkel aufragenden Bäume und fühlte mich wie eine Fee auf Wanderschaft, nur das lange Kleid fehlte.

Die Nacht hatte ihren dunkelsten Punkt erreicht, doch ich besaß mein Licht und die Gewissheit, inmitten der Natur ein Teil von ihr zu sein. Ich gehörte dazu.

So erreichte ich mein Ziel. Still stand ich mit meinem Licht in der Hand und wartete. Ich warte auf mein Innerstes, das sich noch nicht traute mir zu folgen und noch fast betäubt an meiner Gartentür stand. Manchmal galt es auch auf das eigene Ich zu warten. Das war völlig in Ordnung, denn ich wusste, dass nicht jede Facette meines Selbst den Mut besaß, meinen Gedanken zu folgen.

Ich schaute nach oben. Die Wolkendecke schien langsam aufzureißen. Ein Glück für mich. Ich konnte das Licht an die Seite stellen, denn den Rest des Weges ertastete ich nun mit meinen Füßen. Mit meiner Hand fühlte ich den Stein, meinen Stein. Er war Jahrtausende alt und das gab mir das Gefühl des Beschütztseins. Ich freute mich, mein Ziel erreicht zu haben und erkletterte den großen Findling auf der Lichtung des Mischwaldes inmitten Schleswig-Holsteins, inmitten Norddeutschlands, inmitten der Nordhalbkugel, inmitten der Welt…

Hier konnte ich Stunden verbringen und den Rest der Menschheit vergessen. Heute war es aber anders. Heute wollte ich nicht vergessen. Heute wollte ich gedenken. Heute war ich einfach Mensch, der seine Hände auf den kühlen Stein legte und darin die Sterne spürte, die um mich herum ihre Bahnen zogen. Ich sah noch für einen Moment das abgestellte Licht, dann schloss ich meine Augen, um den Wald zu hören. Alle Sicherheiten der Zivilisation wollte ich abgeben, alles verlieren, um schließlich das wahrzunehmen, was es noch gab; das, was sich nur zu leicht hinter all dem Anderen versteckte.

Meine Handinnenflächen brannten. Ich merkte die Energien um mich herum. Sie waren immer da. Wenn die Stille uns einholte, dann werden sie umso sichtbarer; nicht mit dem Auge, nur mit den Sinnen. Manchmal zeichnete ein aufgepusteter Löwenzahn die Formen, manchmal zogen die Ringe auf dem See ihre Felder und manchmal hielten sie mein Herz in festen Händen, ohne mich loslassen zu  wollen.

Ich spürte die Lebewesen um mich herum, das war nicht schlimm. Ich erspürte das Universum über mir, das war endlose Freiheit und ich spürte meine Traurigkeit, die mich hier festhielt. Tränen fielen über mein Gesicht und auch dies war nicht schlimm. Denn irgendwann würde dies Traurigsein in der Gewissheit enden, diesen endlosen Weiten zu folgen. Nur nicht jetzt und das war gut so. Es war ein Einssein mit denen, die bereits gegangen waren und bestimmt irgendwann wieder die Blüten des Hierseins mit vollem Herzen begrüßten.

Stunden verstrichen. Ich lächelte. Ich hatte meine Aufgabe gemeistert. Ich hatte mich verabschiedet. Alles was nun kam, war gut und richtig. Beherzt sprang ich im Morgengrauen von meinem Stein und löschte den Rest meines Teelichtes. Ich brauchte es nicht mehr.

Alles was kam, würde die Sonne begleiten…