Wünsche sind nur der Anfang…

Sie streckte sich immer noch ein kleines Stückchen weiter. Es musste doch einfach klappen! Tastend berührten die Fingerspitzen das Glas auf dem Regal. Glatt und kühl fasste es sich an. Die bunten Farben der süßen, mit glitzerndem Papier eingewickelten Bonbons konnte sie sogar auch von hier unten erkennen. Bis zum Rand füllte diese Verlockung das Gefäß; es brauchte nur der Deckel angehoben werden, doch dafür musste sich dieser Schatz in den Händen befinden. Geduld schien das Gebot der Stunde, doch woher nehmen und nicht stehlen? Die Fußzehen wackelten unter dem ungewohnten Winkel der Belastung. Das Rückgrat ließ sich nun auch kein Stück mehr strecken; jede Möglichkeit schien ausgereizt. Wie lange hätte sie noch die Kraft, in dieser Position zu verharren? Aufgeben galt nicht, aber weiter kam sie auch nicht. Seufzend stellte sie sich wieder in eine normale Haltung, senkte die Arme und schaute nach oben.

Natürlich könnte sie noch die dicken langweiligen Bücher über irgendwelche Länder aus dem Bücherregal herausfischen und auf den Hocker legen; dieser stellte im Moment die höchste und stabilste Leiter zu dem Erwünschten dar. Ein klein wenig verlockte dieser Gedanke, schließlich würde es ganz bestimmt keine Spuren hinterlassen, wenn sie barfuß auf das Gedruckte trat. Naja, ganz sicher war sie sich nicht. Manchmal wirkten Bücher sehr stabil und waren es doch nicht; eindeutige Dellen zeigten vielleicht gänzlich empört die missbräuchliche Nutzung; diese ließ sich dann nicht mehr wegdiskutieren. Im Moment spürte sie den Lederbezug des Hockers unter ihren nackten Füßen; dieser Untergrund versprach irgendwie guten Stand, den wollte sie nicht verändern. Außerdem bargen kreative Hilfsmittel immer den Eindruck, etwas nicht wirklich aus eigener Kraft geschafft zu haben. Was für ein Quatsch, doch gegen Gefühle konnte niemand argumentieren.

Geräusche aus dem Nebenraum verrieten, dass das Alleinsein im Haus nicht mehr gegeben war. Mit ein wenig Glück blieben vielleicht noch drei bis vier Minuten bis zum Griff in das noch so ferne Glas. Ein Sprung zum Boden wäre dann nach Ablauf der Frist schnell getan und könnte noch als getarnter Unfall das volle Ablenkungsmanöver bieten.

Zwei Sekunden ließ sie ihren Gedanken, um über das Ziel ihrer Sehnsüchte nachzudenken. Bonbons verloren ihren Wert nach viereinhalb Minuten. Für die gelben war es ein exakter Wert, für die roten musste noch eine Minute draufgelegt werden. Ihr intensiver Geschmack schien die Zeit zu verlängern. Vielleicht war es aber auch nur der Nachhall zwischen Zunge und Gaumen, doch zählte der nicht eigentlich voll und ganz mit? Müssen wir immer das Schöne mit allen Sinnen erleben, um es als echt wahrzunehmen oder konnte nicht auch eine ausgeprägte Erinnerung, die mir nicht nur Wohlgefühl, sondern sogar Gänsehaut bis ins tiefste Mark verursachte, als Wirklichkeit zählen? Wer weiß das schon…sie konnte es nur für sich ganz allein sagen: Die Tiefroten blieben unendlich lange im Bewusstsein. Während des Genusses vergaß sie jeglichen Sinn für die Gegenwart und wollte dann nichts Anderes mehr tun, als ihren Blick nach innen richten.

Jetzt hatte sie schon vier Sekunden für diesen Gedanken vertan. Nun ja „vertan“ stimmte nicht, denn allein die Vorstellung ließ ein intensives Wohlgefühl präsent werden, als spräche jemand über eine frisch angeschnittene saftige Orange, in die sie hineinbeißen sollte. Sie schaute nach oben. Genau am oberen Rand des Glases lagen besonders viele von den unglaublich Leckeren; mit einem Griff besäße sie genug Vorrat für einen Nachmittag. Einen kleinen Moment packte sie der Zweifel. Wollte sie etwas unbedingt, WEIL es nicht in ihrer Reichweite lag? Wollte sie die Sterne vom Himmel oder den goldenen Faden am Ende eines Schmetterlingsflügels?

Auf welche Art verloren oder gewannen Dinge an Wert, nur aufgrund ihrer Häufigkeit oder Seltenheit? Entstand dadurch der Schein von Kostbarkeit? Die Pest gab es auch kaum noch; deswegen war sie trotzdem absolut schrecklich. Wasser in einem Trockengebiet dagegen konnte Leben bedeuten und bestätigte die Theorie. Ein Sechser im Lotto war grandios; nicht nur weil er selten war, sondern weil er das eigene Leben positiv verändern konnte, aber das Heranschwimmen eines Riesenkraken an ihr Schlauchboot würde sie beunruhigen. Fazit: Seltenheit war kein Signum für Güte. Vielleicht gab es von bestimmten Bonbons nur wenige, weil sie eh keiner mochte.

Sie wollte die Tiefroten und sie war sich sicher: deshalb stand das Glas hoch oben auf dem Regal; einzig allein, damit sie nicht heran kam. Vielleicht wollte sie jemand schützen. Vielleicht machte der unkontrollierte Verzehr Bauchweh und vielleicht sollte die Distanz eine Möglichkeit zum Nachdenken bieten, auch wenn sich dieser merkwürdige Gedankenansatz anscheinend nur Erwachsenen erschließt.

Manchmal tat Lernen weh. Manchmal zog Lernen den Mund zusammen, weil der Bonbon schon tausend gedachte Mal auf der Zunge zerfloss und manchmal war sie sich einfach nicht sicher, ob sie wirklich, wirklich lernen wollte oder sollte. Lernen war nicht immer einfach, das wusste sie. Es konnte Schmerzen bereiten und fast zerstören, doch es versprach auch das wunderbare Gefühl des unendlichen Seins mit tausend Sternen, die nach Erdbeere oder Kirsche schmeckten.

Die Zehnjährige drehte sich zu mir herum und blickte in meine Augen:

„Meinst du wirklich die Bonbons?“