Das schwarze Ungetüm

Ja, ich muss zugeben, das war meine erste Fahrt in Richtung Ostdeutschland. Ein Seminar zog mich nach einem Ort, den ich vorher nicht kannte: Göhren auf Rügen. Zum Stichwort „Rügen“ fiel mir eine Menge ein. Wer kannte nicht all die schönen Urlaubsbilder von Freunden, die bereits gefühlte hundert Mal diese Insel besuchten? Ich freute mich riesig auf diese Woche. Das Wetter sollte schön bleiben, mein Hotel lag in der Nähe des Strandes und ich konnte tun und lassen, was ich wollte.

Früh morgens wuchtete ich meinen Koffer, Rucksack und Sporttasche auf die winzigen Eingangsstufen des Waggons und suchte meinen Platz. Ich hatte Glück, mein Abteil war nur von einem Pärchen besetzt, das am Fenster saß und ganz freundlich wirkte. Ich weiß, mein Koffer war etwas sperrig, blieb an der Schiebetür hängen, machte dadurch etwas mehr Lärm als notwendig und ich störte als dritte Person gerade eine Zweisamkeit. Doch das sind wohl die Unbillen des Lebens, die jeder so zu ertragen hatte.

Mein Blick ging nach oben und stockte. Die Gepäckablage sah ziemlich hoch aus; nicht im eigentlichen Sinne, lediglich im Verhältnis zu dem Gepäckstück, das ich da hinauf wuchten wollte. Ich straffte mich innerlich. Aber klar, selbst ist die Frau! Ich schaff das schon!

Dieser Meinung schien der dickbäuchige Mann am Fenster auch zu sein. Er schaute mir ganz interessiert zu, wie ich leise schimpfend meinen Koffer verstauen wollte; das gute Stück war doch ein wenig sperrig und das Gesamtgewicht ließ sich für mich nur schwer über den Kopf auf die Ablage wuchten. Keuchend verlor ich die Geduld und fragte meinen Zuschauer, ob es ihm etwas ausmachen würde, mir ein klein wenig zu helfen; immerhin vergaß ich meine Erziehung nicht und brachte noch ein „bitte“ zustande. Ich wusste, dass ich nur noch ein Zeitfenster von circa zwei Sekunden besaß, bevor mir das schwarze Ungetüm auf den Kopf fallen würde.

Der gute Mann schien erschrocken (ich hoffte über sich selbst, schließlich soll es Männer geben, die solch ein Dilemma vorhersehen können und es gar nicht so weit kommen lassen). Doch er verlor eindeutig eine von meinen noch verbleibenden Sekunden damit, dass er mit seinem Bauch an dem vor ihm ausgeklappten Tischchen hängen blieb. Immerhin zeigte sich die darauf stehende Brauseflasche standhaft und die Tüte Süßes beschloss ebenso an ihrem Platz zu verharren. So verursachte ich nicht gleich in meinen ersten Urlaubsstunden eine der kleinen Katastrophen, die mich anscheinend immer auf meinem Weg begleiteten.

Ich freute mich über seine Bemühungen und schaffte tatsächlich noch eine weitere Sekunde aus meinen Oberarmen heraus zu kitzeln, bevor ich nicht mehr konnte. Der Retter war nah, griff mit einer Hand über meinen Kopf hinweg, schob den Koffer zurecht und positionierte mir meine Sporttasche noch so, dass ich ganz bestimmt nicht mehr heran kam, aber es war ja echt nett gemeint. Ich revidierte ein wenig meine vernichtende Meinung über Männer im Allgemeinen und freute mich auf die Fahrt, die ich zu allen möglichen Erledigungen an meinem Laptop benutzen wollte.

So startete ich meinen Computer und stellte fest, dass mein Akku fast leer war. Ok, das machte nichts. Mit weiser Voraussicht hatte ich das notwendige Kabel in meinen Rucksack gelegt und fischte es nun kurzerhand heraus. Suchend blickte ich mich um. Ich schaute sogar unter meinen Sitz, zog an irgendwelchen Klappen und untersuchte jeden erreichbaren Zentimeter meines Umfeldes nach einer Steckdose. Nichts! Mein Blick schweifte nach rechts zu dem Pärchen. Beide saßen sich mit Handys in der Hand gegenüber und konzentrierten sich auf das Dargebotene. Das war nicht der interessante Aspekt. Interessant war, dass beide ihre Handys an einem Kabel angeschlossenen hatten, das eindeutig in einer Steckdose endete. Vorsichtig fragte ich meine Mitreisenden, ob sie von der Existenz weiterer Stromquellen wussten. Beide schüttelten den Kopf und schauten fast synchron zurück auf ihr Display.

„Ich bin bei 36% und du mein Schatz?“, fragte der Retter meiner Oberarme sein Gegenüber.

„Moment, ach ne, ich bin bei 53%…“

Die Frau zuckte mit den Schultern.

„Tut uns leid, das wird wohl noch eine Weile dauern…“

Verständnisvoll nickte ich und fluchte innerlich. Einen Moment produzierte ich dunklere Gedankenwolken, bis mir die Idee kam, über mein Handy meinen Mail-Account zu bearbeiten. Ha! Man brauchte nur Ideen! Etwas umständlich mit dem kleinen Ding, aber ich konnte auch langsam meinen Postberg abarbeiten.

Gedacht, getan; naja, fast. Mein externer Mail-Account ließ sich nicht öffnen, da es an hautnaher Verbindung fehlte. Ich sah mich schon auf meinen Sitz steigen, um wie in der Werbung nach Kontakt zu suchen, doch ich riss mich zusammen. Nach dem zehnten Abbruch meiner Bemühungen begriff auch ich, dass diese Vorgehensweise in dem von mir befahrenen Landstrich wohl nichts bringen würde.

Ok, meine Urlaubslektüre lag im großen Koffer und der sollte bleiben, wo er war. Also hörte ich Musik und ließ mit dem Blick aus dem Fenster meine Gedanken schweifen. Ich wählte das Fenster zum Gang hinaus, das ich durch die geöffnete gläserne Abteiltür gut sehen konnte. Beim Hinausschauen nahm mein Blick auch das Spiegelbild meines Helfers wahr, der unentwegt in seine Süßigkeitentüte griff oder an der Limonade trank.

Warum hatte ich mich so sehr aufgeregt? Eigentlich war ich zutiefst davon überzeugt, eine moderne Frau zu sein und dann regte ich mich auf, dass ER mir nicht half? Die Frau kam überhaupt nicht in meinen Gedanken vor! Also bin ich doch stockkonservativ und mochte es nicht zugeben? Gegenstimmen in meinem Kopf brachten Argumente ein: Bei Männern ging jeder im Allgemeinen davon aus, dass sie mehr Kraft besaßen und diese bitteschön dann auch notwendigerweise zur Verfügung stellten. Mein Blick fiel auf die gegenübersitzende Frau. Sie war wirklich klein und zart. Sie hätte wahrscheinlich nicht einmal an meinen Koffer heranreichen können.

War es das? Ich war altmodisch und regte mich auf, wenn sich die Welt und somit die Menschen veränderten? Etwas unmutig betrachtete ich innerlich meine eigene Wortwahl. „Altmodisch“ war ein ganz schön hartes Wort. War „konservativ“ besser? Nicht wirklich. Ich sollte am besten das Thema fallen lassen, sonst müsste ich noch mein Selbstbild korrigieren…Irgendwie hatte ich das Gefühl, etwas übersehen zu haben.

Die drei Stunden Fahrt verflogen. Ich stand auf und vergewisserte mich bei meinen Mitreisenden kurz, dass wir wirklich an meinem Ziel angekommen seien. Bevor ich meine Arme heben konnte, sprang der Mann auf (diesmal achtete er darauf, nicht am Tischchen hängen zu bleiben) und schob mich kurzerhand zur Seite.

„Das mache ich mal eben schnell…“

Ich freute mich. Na gut, ich war vielleicht altmodisch, aber war das wirklich schlimm? Ich betrachtete seinen voluminösen Rücken während er sich an meinem Koffer abarbeitete. In dieser Sekunde zeigte sich das fehlende Puzzlestück in meinen Gedanken, denn ich sah, dass es dem Mann wirklich Mühe bereitete, meinen Koffer herunter zu wuchten. Er tat etwas, was ihm aufgrund seiner Statur ausgesprochen schwer fiel und ich? Ich dachte nur über mich selbst nach und reflektierte irgendwelche normkonforme Bezeichnungen, anstatt das mir Entgegengebrachte wirklich zu würdigen! Es war völlig egal, in welche Schublade ich passte. Es war völlig egal, welche Bezeichnung meine Einstellung zum Leben widerspiegelte oder nicht. Es war überaus wichtig, dass hier jemand einem Anderen einen Gefallen tat, auch wenn die anfängliche Form nicht meinen festgefahrenen Ansprüchen genügte.

Mit etwas Mühe trug ich mein Gepäck wieder durch die Waggontür und blieb einen Moment Luft holend auf dem Gleis stehen. Mein Blick fiel auf den Koffer.

Wie schnell verurteilte ich jemand anderen, weil er die Situation nicht gleich verstand? Wie lange brauchte ich für die Erkenntnis, dass ich kein Stück besser war?