Ein Lächeln brachte mich zu Fall! Das waren unfaire Methoden eines Kämpfenden! Das Abfangen meines Blickes irritierte mich eine Sekunde und ich verlor meine Aufmerksamkeit für mein Gegenüber. Nein, das stimmte nicht ganz. Ich brachte sie auf eine andere Ebene. Eine Ebene, die im Miteinander sehr nett war, aber im Kampf vom Wesentlichen ablenkte. Genau genommen könnte es ein Schachzug meines Gegners sein, mit dem er meine Energie umlenkte und damit den Vorteil suchte. Als ewige Optimistin könnte ich hierin aber auch die absolute Freude meines Trainingspartners sehen, die sich einfach über ein Lächeln ausdrückte, doch das Ergebnis sprach Bände: Ich lag entwaffnet auf dem Boden. Das ist eben die Eigenschaft der wahren Aufmerksamkeit, daß sie im Augenblick das Nichts zu Allem macht.
J. W. v. Goethe
Das Spannende im Leben befand sich im steten Miteinander mit einem Fokussieren und Wahrnehmen. Wir Menschen waren dafür ausgelegt; sei es im normalen Leben, beim Kämpfen oder Lieben. Die kritische Stimme könnte nun sagen, dass ein Kampf kein Miteinander sei, sondern eher ein Gegeneinander. Ich behaupte: das stimmt nicht!
Wagte ich einen Kampf, musste ich mein Gegenüber mit jeder Faser wahrnehmen, um von einer Sekunde auf die andere reagieren zu können. Schließlich ließ ich einen anderen Menschen in meinen privaten Bereich, obwohl seine Intention absolut eindeutig war. Solange ich trainierte, war dies eine Tatsache, die nicht einmal bemerkt wurde, doch in einem Kampf war es das Spiel mit dem Feuer. Ich lud ein Ungeheuer ins Haus und musste dann mit den Folgen leben.
Heute stand ich auf der Matte und hörte den Erklärungen unseres Trainers zu. Bevor wir uns mit den Übungen beschäftigen, war es ihm sehr wichtig, die Vorstellungen über das, was wir taten, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wie leicht sprach der Mensch mit einem anderen über eine Sache und beide hatten trotzdem etwas Unterschiedliches im Sinn. Um dem entgegen zu wirken, definierte unser Lehrer sehr genau den Begriff des „Kontaktes“, der für einen Kampf notwendig war. Der Ursprung lag im Lateinischen, das seine Inhalte aus mehreren Worten zog:
Es fand sich in „contingere“ im Sinne von berühren, erreichen und auch jemanden etwas zuteilwerden lassen und es kam aus „tangere“ mit der Bedeutung von treffen, bewegen oder jemanden im Denken oder Handeln beeinflussen. Dies ist nur eine Auswahl von vielen Nuancen. Doch alle Deutungen besaßen eine gemeinsame Grundlage: Ein Mensch wirkte auf einen anderen Menschen ein. Das besonders Wichtige lag in der Tatsache verborgen, dass diese Einwirkung sich sofort rückkoppelte. Ich konnte auf niemanden einwirken, ohne dass das Gleiche auch mit mir geschah, selbst wenn sich die Inhalte unterschieden.
Mit diesen Gedanken im Kopf ließ sich jegliche Interaktion mit einem anderen unter einem neuen Aspekt betrachten. Ich agierte und mein Gegenüber re-agierte, ich schenkte etwas und der Beschenkte überreichte mir ebenfalls etwas. Definierte ich also „Kontakt“ unter diesem Blickwinkel, dann dürfte es niemals geschehen, dass nur eine Seite etwas gab. Wäre dem so, bestünde kein Kontakt!
So standen wir auf der Matte und berührten unser Gegenüber mit der Hand am Oberarm. Was spürte ich? Ich fühlte den Gi, die Wärme des anderen, die Haut, die Muskeln, die Knochen, sein Rückgrat und letztendlich sein Zentrum, das ich brauchte, um jegliche Aktion meines Gegenübers in einer Nanosekunde erfassen zu können. Es war kein denkender Prozess, es war ein allumfassendes Hineinfühlen in mein Gegenüber. Mein Trainingspartner spürte sofort, wenn ich seine Mitte erreichte. Denn im Sinne des Kontaktes nahm er auch mein Zentrum wahr. Befanden sich zwei Menschen an genau diesem Punkt, dann gab es ein echtes Miteinander gleich einem gemeinsamen Schwimmen in einem Strom, der uns zu einem Ziel führte. Es war ein unglaublich intensives Gefühl der Präsenz des Anderen, die jeden Schritt und jede Handbewegung als die eigene fühlbar werden ließ.
Zwei Kämpfende bildeten so eine Einheit wie Yin und Yang, die zueinander passten. Kein Raum befand sich zwischen ihnen, nichts trennte sie.
Na ja, fast nichts. Ein Lächeln schaffte dies schon.
Trainer: Matthias Lange, 5. Dan
Trainingsort: https://www.aikido-ostseecamp.de/