Jenseits der Grenzen des Ichs

Manchmal brauchen wir nur ein klein wenig Raum, ähnlich wie Harry Potter unter der Treppe bei seinen Verwandten. Manchmal reicht uns nicht das größte Fußball-Stadion der Welt, ähnlich wie ein Blauwal im Atlantik und manchmal fliegen wir durch die Galaxie auf der Suche nach einem anderen Stern, der uns den Weg durch all die Wirren des Lebens führen soll. Wir bekommen den Raum für uns selbst, den wir uns nehmen. So ist die innere Welt unendlich dehnbar. Niemand legt fest, an welcher Stelle wir beginnen oder enden. Wagen wir einen neugierigen Blick von oben, kommt die berechtigte Frage auf, wo ganz genau hört das eine auf und beginnt das andere? Unser Bewusstsein kennt die Antwort, schließlich zeichnet all das, was uns umgibt den Rand unseres Selbst. Das Problem liegt lediglich darin, dass unsere Wahrnehmung dazu neigt, wie ein kleiner Flummi von hier nach dort zu springen und sich in keiner Minute mit irgendetwas festlegen mag; was ich gerade noch dachte, verwerfe ich sehr wahrscheinlich keine drei Schritt weiter.

Die äußere Welt ist dabei wesentlich genauer. Sie legt sich um uns herum, wie eine weiche Hand, die schützend umfängt und trotzdem das wirklich Vorhandene mit dem Scharfsinn einer Klinge von uns trennt.

Mitten in der Nacht zwischen den letzten Resten der Dunkelheit stand ich im Herzen der Stadt auf einem kleinen Balkon und schaute über die Dächer in den Osten. Hier legte sich niemals Ruhe über die Straßen. Immer wieder ließen sich Stimmen der Menschen vernehmen oder Autos fuhren vorbei. Es war Vollmond und wenn ich meine Hand ausstreckte, konnte ich den ungewöhnlichen, rötlichen Schein des Himmelskörpers berühren, der mich anscheinend ebenso betrachtete wie ich ihn. Gedanken des Tages suchten meine Aufmerksamkeit, doch diese verwehrte ich, denn ich wollte nicht mehr denken. Denken hielt mich fest, zwang meinen Blick auf Dinge, die ich nicht sehen mochte. Ich wandte mich von meinem Bewusstsein ab, das mich gleich einem lauernden Wolf umrundete und suchte die Stille. Intuitiv wanderte mein Blick über den diffusen Rand des Mondes. Das Betrachten trug, es lehrte das Sich-Selbst-Vergessen. Ich mochte nur noch sein, irgendwo dort draußen, irgendwo in mir, verbunden in einem Miteinander, das mir die Lichter in dunklen Zeiten hielt. Ich wollte sein wie der Regen, der vom Himmel fällt, ich wollte sein, wie die blau-grüne Woge an einem Sommertag am Meer und ich wollte sein inmitten eines bunten Blütenfeldes mit dem flirrenden Flattern zarter Schmetterlingsflügel um mich herum.

Mein Bewusstsein nahm eifersüchtig meine Sehnsucht nach außen wahr. Immer wieder versperrte es mir die Sicht, immer wieder erinnerte es, immer wieder glaubte es mir den Finger in Wunden legen zu dürfen, die das Leben schlug. Warum folgte das Denkende in mir nicht meinem Blick? Verstand es nicht, dass es ein Teil von mir war, der ebenso geliebt wurde wie sein Gegenteil? War es nicht das gemeinsame Gehen des Bewussten und des Unbewussten, das uns den inneren Frieden gab? Verlangte ich denn zu viel? Der helle Schein des Mondes gab mir die Antwort:

Alles hatte seine Zeit.

Leichter Wind kam auf, die Wellen meines Innersten glätteten sich. Ich schenkte dem Mond ein Lächeln, bevor er sich verabschiedete. Sein Gegenstück zeigte bereits die ersten Strahlen am Rande des Horizonts und begrüßte mich als einen Teil des Ganzen.

Es gab ein Außen und ein Innen und ich wollte beides sein.