„Realität“ war ein sehr schweres Wort. Die Lautbildung in der Aussprache entsprach dem eigentlichen Sinn oder besser gesagt, sie entsprach dem, was ich mir darunter vorstellte. Schon war es passiert. Ohne Argwohn rutschte ich als unbedacht Denkender am Thema vorbei, denn gerade las ich: „Realität ist das, was außerhalb des Denkens der Menschen existiert.“[1] Ich würde meine Vorstellung nicht gerade dort mit einsortieren… So ließ sich schon einmal festhalten, dass Wünsche und Überzeugungen oder auch noch so sachliche Sichtweisen bei der Definition nichts zu suchen hatten.
Das Wort bestand aus vier Konsonanten und vier Vokalen[2]. Justitia würde sich freuen; es war eine Aneinanderreihung von Buchstaben mit einer grundlegenden Ausgewogenheit. Wenn sich „Realität“ als ein emotionsloses Etwas einstufen ließ, dann würde ich sagen: da passte das Äußere zum Inhalt! In meinen Augen war Sachliches auf seine eigene Art ausgewogen. Das Runde, manchmal Verworrene, Explosive und auch immer wieder Unglaubliche konnte nur der Mensch fabrizieren; eine Feststellung, die sich als sachlich bezeichnen durfte und trotzdem keine „Realität“ darstellte, da eine „Feststellung“ wieder meiner Überlegung entsprang. Ein wahrliches Wirrwarr; dies war der Garten Eden für Überlegungen an einem sonnigen Abend auf dem Liegestuhl unter dem Lieblingsbaum.
Mit geschlossenen Augen spürte ich die nicht mehr ganz so heißen Sonnenstrahlen im Gesicht und auf meinen Armen. Göttlich. Melodische Klänge über Kopfhörer trugen mich in die Ebene zwischen Realität und Wirklichkeit[3], um auf Jemanden zu treffen, der dort auf mich wartete.Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist, als die Welt des Traumes. Salvador Dali
Er schaute mich mit großen Augen an. Erstaunt stellte ich fest, dass ich ihn verstand, obwohl meine Ohren kein Wort vernahmen.
„Überrascht? Glaub ich nicht!“
Wenn ich mich nicht täuschte, enthielt der Ton in der Gedankenrede eindeutig einen winzigen Vorwurf. Ich betrachtete meine Handinnenflächen, die etwas trugen, das ich eben ohne große Überlegung aus meiner Jackentasche holte. Ein kleiner warmer Stier mit blauem Fell lächelte mich etwas schief an. Von der Größe her, könnte ich genauso gut einen kleinen Hundewelpen mit einem immensen Selbstbewusstsein halten; der Größenvergleich stimmte. Anstatt mir über das bloße Vorhandensein Gedanken zu machen, fragte ich mich lediglich, warum das kurze Fell denn nun blau war und nicht braun oder schwarz.
„Ich bin das, was mir gefällt. Blau ist meine Lieblingsfarbe.“
Stimmt, eigentlich wusste ich es, woher auch immer. Vögel aus den Baumwipfeln stimmten meinen Gedanken zu und eine Amsel traute sich bis zum Liegestuhl, um einen genaueren Blick auf meinen Schatz in den Händen werfen zu können. Ich spürte seine kleinen Hufen, die trotz der Rundung meiner Hände einen sehr sicheren Stand besaßen. Dies kleine Wesen sah mich an und blickte durch mich hindurch bis zu meinem Innersten, denn es nahm mich wahr, hier und jetzt. Es gab kein Früher und kein Bald, es gab nur diesen Moment… Meine Überlegungen von eben verflüchtigten sich. Überraschenderweise fühlte ich mich völlig unaufgeregt.
„Und? Wie hast Du dich entschieden?“
„Ähm,…“
Ich fühlte mich, als stünde ich vorn an der Tafel und kannte die Lösung der Matheaufgabe nicht, obwohl sie aufgrund des Gelächters der Mitschüler eindeutig ziemlich einfach sein musste.
Überflüssigerweise drehte die Amsel ihren Kopf zur Seite und betrachtete mich abwartend. Der Druck konnte nicht höher sein.
„Muss ich mich entscheiden?“ Ein klein wenig Zeit zu schinden, empfand ich nicht zu unhöflich; ich wollte nichts entscheiden, dessen Reichweite ich überhaupt nicht einschätzen konnte. Für eine Beurteilung wäre es absolut hilfreich gewesen, den Gegenstand der Unterhaltung zu kennen.
Die untergehende Sonne schien durch die Äste auf mein Gesicht und beruhigte ein klein wenig die nunmehr etwas hin und her fliegenden Gedanken.
Ein leises Lachen ließ sich aus meinen Händen vernehmen. Irritiert schaute ich den kleinen Stier an.
„Alles gut. Du musst Dich überhaupt nicht entscheiden. Dir wird immer alles gezeigt. Sieh nur genau hin.“
Er schaute mich mit einem Lächeln an und ich wusste, ich würde in seinen Augen versinken wollen. Hier wäre ich für immer sicher, vor allem. Die Abendsonne legte noch einmal ihre letzte Kraft in ihren Schein und blendete mich. Als ich wieder sehen konnte, sah ich in meine leeren Hände. Nur ein Blatt schien vom Kirschbaum in mein Buch gefallen zu sein, das noch von vorhin auf meinem Schoß lag. Ich beugte mich vor und betrachtete es genauer. Das Blatt sah ganz normal aus, doch es zeigte mit seiner Spitze auf ein Wort.
Ich musste lächeln. Das Universum war immer und überall da, selbst in den Büchern, die niemals den echten Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität erfassen konnten. Das vermochten wir nur selbst.
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Jetzt bin ich so etwas von gespannt! In den nächsten Tagen bekomme ich einen knallgrünen neuen Liegestuhl von einem Freund…….
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Wird schon! 🙂
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