Weiß, bunt, schwarz

Das Licht der Abendsonne fiel auf das Bild von O’Sensei. Die Matten lagen in einem grünen Viereck auf dem Turnhallenboden und ein noch einsamer Tisch mit zwei Stühlen stand direkt an der Seite der weichen Fläche. Gegenüber den Fenstern saßen bereits erste Zuschauer und unterhielten sich leise. Die Stimmung war eigenartig. Spannung lag in der Luft. Vielleicht entstand dieser Eindruck auch durch den Gesichtsausdruck der Prüflinge, die nun den Raum betraten. Ernst und etwas in sich gekehrt gingen sie direkt zur Mattenfläche, um sich mit Dehnübungen auf das Kommende vorzubereiten. Als Zuschauerin saß ich still auf der Bank und folgte ihren Bewegungen. Ich sah eine zitternde Hand und erwischte mich bei dem Gedanken, dass ich ziemlich froh war, nicht selbst dort im Fokus zu stehen.

Die Prüfer fanden sich ein, tauschten Papiere aus und besprachen ihr Vorgehen. Eine Uhr wurde auf den Tisch gestellt. Ein Nicken, ein Händeklatschen und Stille sank über den Raum. Zwei Prüflinge knieten mit ihren Angreifern nieder, schlossen die Augen und konzentrierten sich. Ungewohnterweise sah ich den Vorgang von außen und fühlte trotzdem die Ruhe, das innere Sammeln, als säße ich selbst auf der Matte. Äußere Umstände schienen den Körper zu erinnern und ihn in gewohnte Bahnen werfen zu wollen, irgendwie schön.

Namen wurden aufgerufen. Die Prüfer baten zwei Personen in die Mitte, die nun die Matte ihr Eigen nennen durften. Mit einem Verbeugen grüßten die Aikidoka.

Über eine Stunde lang folgten klare Anweisungen vonseiten des Prüfers in Japanisch; einerseits nannte er die gewünschte Technik sowie andererseits den erforderlichen Angriff. Gebannt betrachteten die Zuschauer die Ausführungen. Mit den runden, schönen und sehr effektiven Bewegungen fand eine Vorbereitungszeit ein Ende, die für die Prüflinge mitunter eine starke Belastung darstellte. Oftmals erhöhte sich durch den bevorstehenden Termin die Trainings-Häufigkeit in der Woche um das Doppelte und in den letzten Tagen vor der Prüfung war der Schlaf mit Sicherheit nicht mehr ganz so erholsam. Warum unterzogen sich Erwachsene, die oftmals fern von jeglicher notwendigen Prüfung für das Berufsleben waren, solch einer belastenden Situation?

Unter den Aikidoka auf der ganzen Welt existierten unterschiedliche Handhabungen in der Überprüfung des Wissens. Es gab Lehrer, die den Leistungsstand während verschiedener Trainingszeiten genau verfolgten und dem Schüler irgendwann verrieten, dass sie eine neue Stufe erreicht hätten. Mit Sicherheit war dies die entspannteste Methode für alle Beteiligten. Gegner dieser Vorgehensweise könnten argumentieren, dass in solch einem Falle die besondere Vorbereitungszeit fehlen würde. Körper und Geist befassten sich schon Wochen vor dem Termin mit tausend Kleinigkeiten der Techniken, die vielleicht in diesem Ausmaße niemals betrachtet würden, nicht einfach, aber intensiv.

Vielleicht war dies Vorgehen mit dem Prinzip eines Uchi Deshi vergleichbar. Dies bedeutet Hausschüler und ist in Japan eine übliche Trainingsform. Diese Schüler verschrieben sich für eine gewisse Zeit gänzlich dem Aikido und lebten und arbeiteten im Dojo. Zugegeben, dieser Vergleich war ein wenig holprig, doch er besaß auch einen Schnittpunkt: Mit Konzentration und Genauigkeit wurde für ein Ziel gearbeitet.

Zudem gab es auch zwischen den Verbänden unterschiedliche Handhabungen während der Prüfung: Die einen nahmen sich den ganzen Abend Zeit, das komplette Programm mit jeder einzelnen Technik aus gefühlt tausend verschiedenen Angriffen zeigen zu lassen (mit rechter Hand und linker Hand, sowie in einer „direkten“ Version (Irimi), wie auch in einer „umgehenden“ Version (Tenkan) usw.) Je höher der Grad, umso länger dauerte dadurch die Prüfung. Für den Schwarzgurt kamen damit über 230 Varianten zusammen, die abgefragt werden könnten.

Anderen wiederum reichte bei den unteren Graden das punktuelle Zeigen von ausgewählten Techniken. Schließlich kannten sie in den meisten Fällen die Leistung der Prüflinge und wussten ganz genau, dass sie es konnten. Dem Nicht-Aikidoka sei noch erklärt, dass ein Schüler üblicherweise immer erst vom Trainer zur Prüfung vorgeschlagen wurde und das geschah nur, wenn dieser augenscheinlich so weit war.

Ein Lehrer sagte mir einmal, bei einer Prüfung konnten die Schüler nicht mehr nachdenken. In ihrer Aufregung würden sie nur noch das zeigen können, was ihnen mit den Trainingsstunden in Fleisch und Blut übergegangen war: Das absolut gefestigte Wissen offenbarte sich und genau dies würde ihn als Trainer interessieren. Bestehende Fehler und Ungenauigkeiten zeigten sich klar in dieser Situation.

Endlich gab es die erlösenden Worte: Vielen Dank! Völlig außer Atem setzten sich die Prüflinge mit ihren Angreifern wieder in den Fersensitz und warteten. Die Prüfer besprachen sich. Oftmals reichte ein kurzer Blickwechsel. Die Leistung überzeugte oder nicht.

Am heutigen Tage gab es nur glückliche Gesichter. Beide Prüflinge bestanden. Sie erhielten ihre Urkunden und konnten sich später mit einer neuen Gurtfarbe ablichten lassen.

Prüfungen waren besonders. Sie waren intensiv und manchmal schwer auszuhalten, doch sie testeten auch Grenzen, die wir sonst nicht kennenlernen würden.