Im Lichte der Nacht

Langsam fiel der Sonnenball dem Horizont entgegen. Ich brachte meine dunkelbraune Haflinger-Stute, Leslie, zum Stehen und stellte mich kurz auf die Steigbügel. Wenn ich meinen Oberkörper ein wenig streckte, konnte ich den Höhleneingang bereits am Felsenvorsprung sehen. Alles gut. Mein Abendfeuer würde brennen, bevor der letzte Strahl den Hügelrand erklimmen konnte. Ich freute mich und Leslie auch. Ihr Traben wurde immer ein wenig schneller, sobald ihr Magen knurrte und den hörte ich bereits seit einer halben Stunde. Sie wusste ganz genau, sobald wir in der Höhle wären, bekäme sie nicht nur meine vollste Aufmerksamkeit mit einem Trockenrubbeln ihres Felles, sondern der leckere Hafer würde wie durch ein Wunder aus den Packtaschen vor ihrer Nase landen. Wir bereisten seit sieben Jahren diese Anhöhen und ich liebte sie wie meine Schwester.

Heute war ein guter Tag: Es regnete nicht und mein Ausflug war erfolgreich, da ich alles fand, was mein Herz begehrte. Dieser Sommer war einfach perfekt: Es gab genug Regen für das Wachstum der Kräuter und genug Sonne, um alles im Übermaß entstehen zu lassen. Als Kräuterfrau des Dorfes war ich immer darauf bedacht, die Vorratskisten gefüllt zu wissen. Die Kräuter halfen allen, es war ein Geschenk der Natur.

Dreimal im Jahr ritt ich mit Leslie in die Einöde und suchte nach dem für mich Notwendigen. Manche Pflanzen wollten in meinem Garten nicht wachsen. Was ich verstehen konnte, jeder besaß seine Besonderheiten. Nicht jeder Boden war optimal, je besser er zu der Pflanze passte, umso kraftvoller wuchs sie. Das ist an sich kein Geheimnis, doch der richtige Boden für den Wuchs beeinflusste auch die Wirkung des Krautes und ich suchte nach den Besten für meine Belange.

Glücklicherweise fanden wir unsere Höhle in dem Zustand wieder, in dem wir sie vor drei Monaten verlassen hatten. Das trockene Feuerholz lag immer noch sauber gestapelt am Rand. Niemand schien in meiner Abwesenheit hier Schutz gesucht zu haben. Ich liebte diesen Ort und hatte lange nach ihm gesucht. Irgendwann beschloss ich, dass dieser Platz mir gehörte. Der Eingang war schmal, wand sich zweimal und endete schließlich in einen großen Raum, dessen Decke sich mit dem bloßen Auge nicht erkennen ließ.

Eine Stunde später zeigte sich bereits der warme, gelb-rote Schein des Feuers, ein Versprechen der Sicherheit. Ich fühlte mich im Schoße der Natur, die sachte über mein Haupt strich, während der Mondschein zufrieden seine Runde zog. Manchmal befielen mich die Zweifel, ob wir Menschen wirklich in Häusern nächtigen sollten; wir trennten uns vom Natürlichen, die Verbindung wurde dadurch immer dünner und manchmal zerriss sie trauriger Weise gänzlich.

Leslie kaute zufrieden an ihrem Hafer und ich saß mit zerschlagenen Gliedern vor meinem Feuer. Seit den frühen Morgenstunden folgten wir unserem bekannten Weg. Ich könnte wohl fast im Halbdämmer reiten, doch wenn ich als Frau alleine reiste, galt es immer, den Vorteil der Voraussicht nicht zu verschenken. Mit meiner Wildlederkleidung ging ich von weitem gut als Mann durch und der Knauf meines Langmessers lugte immer ein wenig aus der linken Satteltasche hervor, so dass ein schnelles Ziehen immer möglich war. Die kleinen Messer, eines im Seitenschaft meines linken Stiefels und ein anderes an meiner Hüfte halfen mir, mit einem sicheren Gefühl durch die Lande zu ziehen. Das Haar band ich zu einem Knoten im Nacken, so dass es nicht auffiel. Ich musste lächeln. Es gab noch einen wesentlichen Unterschied zu den reisenden Männern, die mir bisher begegnet waren: ich roch besser.

Zufrieden saß ich auf meiner Decke und spürte die Wärme einer Gemüsesuppe in meinem Magen. Seufzend schaute ich in das Feuer. Das war Leben! Alles stimmte, nun nur noch eine Kleinigkeit…

Mit einem kurzen Stock schürte ich die heißen Scheite. Funken stieben und flogen in die Höhe des Raumes. Irgendwo musste es einen Abzug nach draußen geben; hier entstand nie Rauch. Alles zog nach oben und verschwand. Mein Innerstes sammelte sich. Der Tag überließ der Nacht das Wirken; denn in der Nacht war ich eine Andere. Ich schloss meine Augen und trotzdem sah ich das Gelb-orangene des Feuers. Jeder Funke fasste das Licht eines anderen und band damit nicht nur sich, sondern auch das Auge des Betrachters. In meinen Händen lag nun eine mitgebrachte Kräuter-Mischung, die hauptsächlich aus Kirschpflaume, Weiße Waldrebe, Drüsentragendes Springkraut, Gelbes Sonnenröschen und Doldigen Milchstern[1] bestand.

Vorsichtig warf ich eine Handvoll des Getrockneten den Funken entgegen. Zuerst stieg mir der Geruch von Lavendel in die Nase. Ich sah Bilder mit großen blauen Feldern aus einem fremden Land, dann verdunkelte Brombeere die Farbe und hinterließ in meinem Mund den Geschmack einer reifen Frucht. Mein Innerstes sah das Bild eines heißen Sommers auf einer Lichtung im Wald. Ganz allein, weil ich es mochte, lag ebenso der feine Duft der Rose in der Luft. Eigentlich gehörten diese Zutaten überhaupt nicht zu der uralten Mischung, die mir bereits meine Großmutter als kleines Mädchen weitergab. Sie verriet mir damals, als sie mit ihren schwachen Augen auf die Sommerwiese blickte, dass jede Kräuterfrau etwas Besonderes diesem Rezept der Nacht hinzufügte. Meine Zutat waren die zarten Wildrosenblüten. Sie waren fein und ich mochte den eigenwilligen Duft. Brombeere war die Zutat meiner Großmutter und Lavendel gehörte meiner Ahnin von vor drei Generationen.

Ruhe fand sich ein. Der Wohlgeruch senkte sich auf alles Leben in dieser Höhle und strich über die gedanklichen Unebenheiten des Tages. Leslie befand sich mittlerweile im Halbdämmer. In wenigen Momenten würde sie den Schlaf finden. Mein Innerstes wollte aber noch nicht loslassen. Ich suchte den Raum zwischen Tag und Nacht. Immer noch hielt ich Reste der Kräuter in meinen geöffneten Händen. Mit geschlossenen Augen ertasteten meine Sinne den Rand der Höhle. Meditation war überwältigend, faszinierend und veränderte Körper und Geist von der ersten Minute an. In dieser Höhle war dies Versinken der Aufwind für die Schwingen eines Adlers in der Nacht, der trotz des fehlenden Lichtes der Sonne jeden einzelnen Grashalm wahrnahm.

Mein Gedanken-Bild ließ die Wände immer dünner werden. Erste Lichter des Sternenhimmels schimmerten hindurch und die freie Ebene streckte mir ihre Schönheit entgegen. Mein Atem wurde immer ruhiger bis er nur noch ein klein wenig am Rande der Notwendigkeit existierte.

Leben ließ sich zelebrieren, es ließ sich bis in die kleinste Einheit des Seins verfolgen; es ließ mich glücklich zwischen Himmel und Erde schweben, als hielte es mich mit sicherer Hand. Ich konnte alles sein: ein aufbrechendes Korn in der Morgensonne, ein Delfin im blaugrünen Wasser der Südsee oder ein Gletscher in den Höhen eines Gebirges. Alles war Eins und Eins bedeutete Alles.

Als ich wieder erwachte, lag ich neben der verbleibenden heißen Glut, die immer noch einen rötlichen Schimmer an die grauen Wände abgab. Unruhe lag in der Luft. Leslie scharrte mit den Hufen und ich bemerkte eine leise Bewegung am Höhleneingang. Ich erstarrte und tastete nach meinem Langmesser an der Seite, zog meine Füße heran und bemerkte, dass ich meine Stiefel ausgezogen hatte, damit ich bequemer sitzen konnte. Also ertastete ich mein Messer am Gürtel, es war da. Gut. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Es konnte kein Mensch sein, der wäre lauter, viel lauter.

Ein Fauchen warnte mich. Dann sah ich sie! Ein Puma-Weibchen oder wie meine Großmutter sagen würde, eine Silberlöwin! In dem Moment als ich hochsah, fixierte sie mich. Krampfhaft versuchte ich mein Wissen über diese Tiere in Erinnerung zu bringen. Anscheinend hatte ich es mit einem jungen Tier zu tun. Ihre Gestalt war noch ganz schmal und zart. Vielleicht war sie zum ersten Mal allein unterwegs, die Jahreszeit würde damit übereinstimmen. Zu ihren Füßen lag ein toter Waschbär; vermutlich wollte sie in dieser Höhle in Ruhe ihre Beute fressen.

Leslie zog sich weiter zum Ende der Höhle zurück, sie wieherte vor Angst. Irgendwie hatte ich noch keinen Plan. Seitdem ich wanderte, kreuzte noch nie ein Raubtier meinen Weg. Im Grunde dachte ich niemals darüber nach, dass es vielleicht einmal so sein könnte. Ein Versäumnis meinerseits. Das war nun egal, dieses wunderschöne Tier wollte diese Höhle und dies sehr wahrscheinlich ohne einen störenden Mitbewohner wie mich. Ich empfand mich in einer Patt-Situation, sie wollte hinein und ich nicht hinaus.

Für einen winzigen Moment dachte ich darüber nach, dass das Fell dieser Silberlöwin ein halbes Vermögen wert war. Ich könnte damit ein Bündel der kostbaren Vanille vom fahrenden Händler kaufen. Bisher war dies ein Traum, den ich mir nicht leisten konnte.

Ich spürte meine Hand um den Griff des Langmessers und meine andere Hand am Gürtelmesser. Es würde schnell gehen. Sie würde nicht leiden. Eigentlich merkwürdig: Keinen Moment dachte ich darüber nach, dass ich einen Kampf verlieren könnte. Ich hatte noch niemals gegen einen Puma gekämpft und doch fühlte ich mich mit meinen Messern überlegen.

Der tote Waschbär lag an ihrer Seite. Sie kam ein kurzes Stück auf mich zu, blieb stehen und wartete. Ich sah bereits ihre Zeichnung des Gesichtes. Ihre Augenränder wirkten, als hätte sie mit schwarzer Kohle den Rand betont; ausgesprochen schön. Feine Linien zeichneten ihr Gesicht. Ihr Fauchen warnte mich. Was sollte ich tun? Was wollte ich tun? Was musste ich tun? Ich hatte zwei Leben zu beschützen, sie wollte ihr Leben erhalten.

Es war noch nicht viele Stunden entfernt, da zelebrierte ich das Lebendige, ganz für mich allein und nun wollte ich töten? Musste einer von uns sterben, um irgendetwas zu beweisen? Anscheinend besaß die junge Silberlöwin noch nicht so viele Erfahrungen mit Menschen. Sie schien unentschlossen und blieb am Eingang.

Der Duft meiner Kräuter legte sich in mein Bewusstsein. Ich wollte in meinem Leben heilen. Wie konnte ich nur einen Moment über das willentliche Töten nachdenken? Welches Vorrecht besaß ich gegenüber der Silberlöwin? Kein einziges! Wir waren alle Eins und Eins bedeutete Alles!

Ich wartete, die Silberlöwin auch. Konzentriert beäugten wir uns. Unendlich erschien mir die verstreichende Zeit, meine Glieder krampften. Ohne mich aus den Augen zu lassen, begann das Tier seine Beute zu fressen. Ich sah zu und verharrte mit den Händen an den Messern. Gefühlt verstrichen Stunden und meine Beine schliefen ein. Irgendwann konnte ich nicht mehr. Ich ließ mich langsam auf den Boden sinken. Mir war es egal, ob das Leben seinen Weg ging oder ob mich die Nacht mit sich nehmen würde.

Als meine Sinne wieder erwachten, sah ich die erste Morgensonne um die Ecke des Tunnels scheinen. Ich lag da, mit einem Messer in jeder Hand. Ich lebte! Leslie sah mich an und ich schaute zum Höhleneingang. Nichts. Die Silberlöwin war verschwunden. Sie hatte mich verschont. Ich sie auch.

So ist Leben und so sollte es sein: Wir sind gemeinsam hier, können wir es nicht auch gemeinsam leben?

 

[1] Damit kein falscher Eindruck entsteht: Diese Mischung entspricht der Zusammensetzung der „Bachblüten“ aus England. Die Zutaten würde meine Protagonistin nicht alle in Nordamerika finden. Diese kleine Unebenheit bedeckt die künstlerische Freiheit mit einem hübschen Tuch J