Manchmal nutzen Lehrer die Möglichkeit, einen bestimmten Sachverhalt mit einem Vergleich aus einem gänzlich anderen Fach zu erklären. Der Schüler muss dann in der Lage sein, sich von der gestellten Aufgabe einen kleinen Moment zu distanzieren. Es entspricht der Bitte, den Bleistift zur Seite zu legen, damit die volle Konzentration auf ein gedankliches Bild fließen kann.
Es ist Freitagabend und die Stimmung konnte nicht besser sein. Durch die geöffneten Fenster hörten wir die beschwingte Musik eines Tangos und Gelächter aus der unteren Etage. Leichter Wind durchzog den Raum und hinterließ das deutliche Gefühl eines Sommerabends. Das sind gute Voraussetzungen für Aikido in seiner schönsten Form:
Eine kleine Gruppe, drei Schülerinnen und eine Lehrerin, fanden den zeitlosen Flow, der es möglich machte, spielerisch und doch mit ausgeprägter Konzentration sich langsam und in aller Ausführlichkeit bestimmten Techniken zu nähern. Der heutige Abend war dem rückwärtigen Angriff mit dem Erfassen beider Hände gewidmet.
Das Augenmerk lag nicht nur beim Verteidiger, sondern ebenso im gleichen Maße beim Angreifer. Im Grunde ist dies nichts Neues, schließlich kann ein Aikidoka mit einem schlechten Angriff nicht richtig üben. Qualitativ hochwertiges Miteinander wird erwartet und möchte auch jeder geben. In einer kleinen Gruppe schien dies noch wichtiger zu sein, da jede Bewegung förmlich auf dem Präsentierteller der Lehrerin lag.
Wir stellten uns auf, um die Fuß- und Handkoordination korrekt zu üben. Für einen unbedarften Zuschauer mochte dies als eine leichte Übung erscheinen, doch der Schein trügt. Es entsprach dem Klavierspielen mit beiden Händen, die zur gleichen Zeit etwas Unterschiedliches vollbringen sollten.
Ich führte meine gehobene Hand meinem Angreifer entgegen, bis sich unsere Hände am Handrücken berührten. Keine Nanosekunde später ging mein rechter Fuß einen Schritt nach außen und senkte dabei die eben noch gehobene Hand. Dies nahm mein Angreifer als Anlass, mein dargebotenes Handgelenk zu ergreifen und dann hinter mich zu treten. Er wollte von hier aus meine andere Hand ebenso fixieren. Das Erfassen der zweiten Hand erleichterte ich meinem Trainingspartner, in dem ich meinen Körper um 90 Grad von ihm wegdrehte und gleichzeitig einen Schritt nach vorn ging. In diesem Moment erreichte mein Angreifer sein Ziel, beide Hände waren erfasst. Doch dabei blieb es nicht.
Mit einem weiteren Schritt drehte ich meinen Körper nun um zusätzliche 180 Grad und senkte dabei mein Zentrum ab. Der Trainingspartner ist dadurch gezwungen, mir zu folgen, da er meine Handgelenke nicht loslassen wollte. Mein Körper steht nun leicht in die Richtung gewandt, die ich bisher gemeinsam mit dem Angreifer gegangen war und meine Handinnenflächen zeigten nach oben, als schaue ich in meine Hände. An diesem Punkt angelangt, könnte der Angreifer meinen, er hätte mich fixiert. Hatte er aber nicht. Das Geheimnis lag dann in der weiteren Handhabung.
Bisher ging ich drei Schritte und drehte meinen Körper mal zu der einen, dann zu der anderen Seite. Nicht besonders spektakulär und trotzdem lohnte es sich genau hier zu verweilen. Was machte ich da eigentlich?
Unsere Lehrerin lächelte und holte sich zwei Messer. Das eine nahm sie in die Hand und das andere steckte sie sich in den Gürtel. Sie entsprach in diesem Moment mit ihrem Hakama und den entschlossenen Bewegungen einer Kämpferin aus einem Wüstenstaat, die vermutlich gut an die Seite von Peter O’Toole in „Lawrence von Arabien“ gepasst hätte.
Im Aikido gab es keine verschwendete Bewegung. Jede Veränderung der Hand oder des Fußes besaß seinen Sinn. Diese lag immer darin, die eigene Position zu verbessern und die des Gegenübers zu verschlechtern. Überrascht stellte ich nun fest, dass der bisher von uns als „Angreifer“ betitelte, eigentlich gar nicht der Angreifer im eigentlichen Sinne war! Der Kämpfer, der die Handgelenke seines Gegenübers versuchte zu ergreifen, wehrte sich hier gegen einen Messerangriff, der ihn ohne Weiteres das Leben kosten könnte. Die oben dargestellte Schrittfolge und anschließende Technik war damit der zweite Versuch des Bewaffneten sich seinem Gegenüber zu entledigen.
Die erhobene Hand am Anfang der Bewegung ist das Zustechen mit dem Messer, das der andere mit dem eigenen Handrücken an sich vorbei gleiten lassen wollte. Das Zurseitetreten ist das Schaffen einer Distanz und eines Zeitraumes, um das zweite Messer mit der anderen Hand aus dem Gürtel zu ziehen. Die Intention des Bewaffneten lag dann darin verborgen, mit einer Drehung von 90 Grad dem anderen rückwärts die Klinge in die Seite zu stechen. Das Ergreifen meines Handgelenkes war somit zu einer Schutzreaktion meines Gegenübers geworden, der das Zustoßen mit dem Messer verständlicherweise nicht zulassen wollte.
Die Erklärungen unserer Lehrerin zeigten uns, wie unterschiedliche Wahrheiten entstehen konnten: Die Schrittfolge bei einem rückwärtigen Angriff entsprach einer Zugmöglichkeit des Pferdes auf dem Schachbrett; ein Schritt zur Seite und zwei nach vorn. Der Vergleich stimmte hundertprozentig! Auch beim Schach konnten die Spielenden niemals sagen, ob der Zug lediglich ein Ausweichmanöver war oder sich im weiteren Verlauf des Spieles als ein geplanter Schachzug entpuppen würde.
Das ist Aikido: immer einen genauen Blick wert!
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Trainerin: Julia Wagner, 4. Dan
Trainingsort: www.aikidozentrum.com