Eine Spur zu heftig

Immer und immer wieder erreicht etwas unsere Sinne, unsere Gedanken oder einfach unser Bauchgefühl. Tausend Eindrücke überschwemmen uns. Warum wir gerade diese oder jene davon aufnehmen und als solche erkennen, lässt sich kaum sagen. Wir sehen etwas und erfassen es doch nicht. Wir hören etwas und trotzdem verstehen wir es nicht. Wir ertasten eine Unebenheit und sehen das Glatte nicht. Mit einem Pinzettengriff wählen wir: Es ist nicht immer das Offensichtliche oder Naheliegende. Das wäre viel zu einfach. Es ist das für uns passend Erscheinende. Passend wozu?

Der Nachmittag schien wie geschaffen für eine Party. Die Sonne rollte sich schon seit den frühen Morgenstunden über Baum und Haus. Die Kleiderwahl war nicht schwer: So wenig wie möglich. Mit einem Mitbringsel für das Buffet in der Hand, werfe ich mich in die vielen Menschen, die ich überhaupt nicht kenne oder vielleicht irgendwann einmal im Vorübergehen wahrnahm. Umso schöner war das Gefühl, dann doch vertraute Gesichter zu treffen, die einen anlächelten und sich freuten, mich zu sehen. Ein Hallo und Schulterklopfen gab der Freude Ausdruck und endete damit, dass das kühle Getränk aus dem gefüllten Schrank geholt wurde und die Gläser prostend aneinander klangen.

Verschiedene Konstellationen trafen aufeinander: Singles, Ehepaare, Freunde, Fremde, Bekannte, Arbeitskollegen, Sportsfreunde oder auch irgendetwas dazwischen. Dementsprechend entwickelte sich der Small-talk: Das Wetter des Tages, der Woche oder des Sommers eignete sich wunderbar für die ersten Aufwärmübungen der Konversation, fand seinen Übergang in geplante oder bereits genossene Urlaube, um schließlich je nach Gegenüber in dem Speziellen der Lebensumstände zu landen. Die Frau eines Arbeitskollegen, die ich durch einige Treffen bereits näher kennenlernen konnte, stand mir gegenüber und erzählte gerade von ihrem Mann, der im Moment allein die Höhen und Tiefen von Urgesteinen in den Rocky Mountains erkundete und damit einem Traum lebte, der ihn bereits schon seit langem begleitete. Im Zeitalter der modernen Technik bestand die Möglichkeit, ihm auf seinem Weg zu folgen und all die neuen Eindrücke ein klein wenig zu teilen.

Sie besaß meine Bewunderung. Es ist mit Sicherheit nicht einfach, einen Partner für längere Zeit loszulassen, ohne zu wissen, wie die Welt ihn verändern wird. Sie wusste, dass die Zeit danach mit ihm eine andere sein würde; schließlich besaß er neue Erfahrungen über sich selbst und auch über andere Menschen, die ihn in dieser Zeit prägten, sozusagen einen neuen Stempel aufdrückten.

Gut gelaunt sprachen wir über die ersten geposteten Eindrücke, die bereits von Vielen im Netz gelikt und kommentiert wurden.  Sie ergänzte durch private Erzählungen ihres Mannes die verschiedenen Stationen seiner Reise. Zwischen Marmorkuchen und Käsetorte lachten wir über die kleinen Anekdoten, die sie zu erzählen wusste. Erster Bratgeruch umwehte uns, eine perfekte Kulisse für eine schöne Feier. Doch plötzlich kippte das Gespräch und ich weiß heute immer noch nicht, woran es lag. Gab es Schlüssel-Worte, die meinem Gegenüber das Fenster für Assoziationen öffneten, die dem lockeren Gefühl eines Sommerfestes nicht mehr entsprachen?

Ein Betrachter unseres Miteinanders sah zwei Frauen, die sich gut unterhielten, ab und zu laut lachten und sich gegenseitig anlächelten. Diese äußeren Merkmale veränderten sich nicht. Doch Konversation besitzt seine eigenen Farben, die durch unterschiedliche Betonung oder im Zusammenhang mit dem Blick ihre Veränderung finden: Es gibt warme Farben, die mit Gold vermengt, Zuneigung und Sympathie vermitteln. Es gibt kühle Farben, die mit Silber Logisches und Sachliches in den Vordergrund bringen und es gibt Farben, die verbrennender Lava gleich die Aura des Gegenübers erfassen wollen, um zu vernichten.

Gut gelaunt verharrte ich in meinen Bewegungen. Was hatte sie eben mit einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte, gesagt? Der Rekorder meiner Erinnerung wiederholte die eben gehörten Worte, die mit einer Handbewegung, die auf mich zeigte, verbunden war:

Sie: „…es ist eine anstrengende Reise, die ihm viel abverlangt. Wahrscheinlich wird er nur noch ab und zu im Netz berichten.“

Ich: „Das geht gar nicht. Er muss unbedingt weiter erzählen! Damit man all die schönen Erlebnisse und Bilder mitbekommt.“

Sie: „…dann kann man ihn auch besser stalken, oder?“

Überrascht hielt ich mich an meinem Getränk fest und sah in ihre Augen. Es war die Nanosekunde, die vor dem Verschließen des eigenen Seins einen Einblick in all die Empfindungen zuließ, ohne dass sich der Mensch dagegen wehren kann. Was sah ich? Die Farben der puren Verzweiflung meines Gegenübers überschwemmten mich. Völlig irritiert wusste ich überhaupt nicht darauf zu antworten. Fassungslos bewegten sich meine Gedanken um den Dialog und ich versuchte zu verstehen.

Wahrheiten sind immer zurechtgeschnitten. Bewegen sich die Gedanken in eine Richtung, so sucht der Mensch für sich das Passende aus der Realität heraus und fügt es als Bestätigung an den Weg der eigenen Überlegung. Davon wollte ich mich nicht ausnehmen und versuchte deshalb so klar wie möglich mein Tun zu überprüfen. Was tat ich denn? Ja, ich kommentiere gern, wenn mir etwas auffällt. Ja, ich like gern, wenn mir Bilder gefallen, schließlich ist es auch immer ein freudiges Dankeschön für geschenkte Impressionen. Das war’s aber auch schon. Konnte das missverstanden werden? Kommt darauf an…

In den Tiefen des Netzes entsprach mein Tun den geläufigen Handhabungen für Berichte. Warum wurde ich also missverstanden? Die „Brille“ der Betrachtung veränderte die geglaubt gesehene Intention des Handelnden. Eine normale Brille korrigierte meine Sicht der Welt im eigentlichen Sinne, sie schenkte mir einen Scharfblick, den ich sonst nicht hätte. Die „Brille“ der Betrachtung bestand aus den Erfahrungsfiltern, die während unseres Lebens geformt wurden. Hatte ich schlechte Erfahrungen machen müssen, dann sah ich ähnliche Situationen mit einem negativen Vorzeichen; waren die Erfahrungen gut, so blieb ich positiv aufgeschlossen. Natürlich bestand im positiven Bereich ebenso eine Beeinflussung, doch sie half ungemein, sich zukünftig im Wohlfühlbereich zu bewegen.

Das Gespräch fand sein Ende. Ohne es zu wissen, hatte ich die Grenzen eines Anderen übertreten und damit verwundet. Im Grunde war es unerheblich, dass es überhaupt nicht meiner Intention entsprach. Es war auch nicht wichtig, ob diese Grenzen des Anderen viel zu eng für das Leben gesetzt waren.

Verwundungen geschehen zwischen Menschen jeden Tag. Oftmals wissen wir überhaupt nichts über deren Existenz. Gut, wenn sie ersichtlich werden. Das Erkennen lehrt uns, vorsichtig mit unserem Gegenüber, aber auch mit uns selbst zu sein.

Seelen sind kostbar.