Wenn es nicht so deprimierend wäre, würde ich es witzig finden. In Filmen passieren Menschen solche Dinge, damit sich das Geschehen als folgerichtiger Schritt an die Situation heften konnte: Der Vampir brach im Schlafzimmer des weiblichen, gutaussehenden Gastes ein und jeder wusste, dass keine zehn Sekunden später ihr wunderbarer Hals zwei Bisslöcher besitzen würde. Der schusselige Detektiv wirkte völlig zerfranst und konnte doch den Fall im Nullkommanichts haargenau analysieren oder ich setze Milch auf und sie kocht über. Alles vorhersehbar. Das normale Leben war anders, wie die ungeliebte Cousine mit der Zahnspange und dem schielenden Blick.
Die Regentropfen rannen über mein Gesicht. Klar, wenn der armselige Geist davon überzeugt war, dass die widerfahrenen Dinge überreich wären, dann wird dem noch etwas hinzugefügt. Es reichte nicht, mit dem Auto mitten in der Pampa liegen zu bleiben. Es reichte auch nicht, dass mein Handy nicht aufgeladen war und es reichte auch nicht, dass die Bushaltestelle, an der ich gerade stand, keinen Fahrplan mehr besaß, da irgendein witziger Mensch sein Feuerzeug an der Plastikabdeckung des Aushanges ausprobieren musste. Wie lange stand ich da? Als eine Frau, die niemals Schmuck trug, besaß ich auch keine Armbanduhr, die mir dieses Geheimnis hätte lüften können; gefühlt mindestens tausend Jahre. Auch ohne Uhr wurde mir aber klar, dass die Stunde der Dämmerung begann. Was wäre der B-Plan, wenn die vermutlich zwei einzigen Land-Busse schon längst diese Einöde passiert hatten? Straßenlampen gab es hier nicht, Toiletten auch nicht. Widerwillig zog ich meine dünne Jacke zusammen und begann mich auf die Wanderschaft zu machen. Es hatte keinen Sinn. Die Straße würde wenigstens irgendwohin führen, sei es in zwei oder zwanzig Kilometern.
Die Wolken entschlossen sich, ihre Pforten zu schließen und der Himmel zeigte seine schönste Seite. Innerhalb von zehn Minuten tat die Welt so, als müsse sie sich an den Sommer erinnern. Die Feuchtigkeit der Straße dampfte mir entgegen. Absolut surreal: Einerseits hob das Dampfende die Wirklichkeit besonders hervor und andererseits passte das Gerade der Straße nicht zum Wolkigen der aufsteigenden Feuchtigkeit. Ich als Betrachter hätte genauso gut in der Hamburger Kunsthalle vor einem Bild von Dali oder Chagall stehen können; tat ich aber nicht. Seufz, das Museum besaß wenigstens eine Cafeteria…
Gedankenverloren betrachtete ich den Weg vor mir, als ein Lachen und Singen meine Ohren erreichte. Es hörte sich noch ganz entfernt an. Überrascht schaute ich mich um: Auf der einen Seite der Straße zeigte sich ein lichter Wald und auf der anderen Seite reihten sich, soweit mein Auge blicken konnte, Korn- und Maisfelder aneinander. Jeder meiner Schritte brachte mich dem scheinbaren Vergnügen immer näher. Unmerklich ging ich schneller und meine Laune verbesserte sich schlagartig.
Die Straße schlängelte sich um die Bäume und die Ebene blieb nicht mehr eben. Als käme Wind auf und bewegte die satte Erde mit einer Leichtigkeit, die den kleinen Wölkchen am Horizont entsprach. Dann sah ich sie!
Ein wuselnder Haufen von hell gekleideten Menschen bevölkerte den Platz um einen See herum, der bisher durch den Wald vor meinem Auge verborgen blieb. Verwundert blieb ich betrachtend an der Straße stehen.
Genau in der Mitte des kleinen Gewässers befand sich eine schmale Plattform zum Ausruhen und Sonnen. Eine überdimensionale Feuerschale stand hier und zierte die Fläche wie eine rote Kirsche eine Torte. Junge Männer standen im Wasser und gaben Holzscheiten weiter, die die Schale füllten. Es war wohl eine Kunst, das Holz dabei nicht nass werden zu lassen. Mit viel Gelächter begleiteten junge Frauen das Tun vom Strand aus und kommentierten fast jeden einzeln wandernden Scheit. Iso-Matten, Kissen und Taschen stapelten sich in der Nähe des Wassers. Diese bunten Flecken sahen aus, als lägen Flaggen aller Nationen auf dem Rasen. Ich musste lächeln; irgendwie ein schöner Gedanke.
Mein Blick schweifte weiter und blieb bei einer kleinen Baumgruppe hängen. Fast verdeckt durch das Laub der Bäume, doch trotzdem gut erkennbar, reihten sich mehrere Campingtische aneinander, die gerade von einigen Fleißigen mit Decken, Tellern und ersten Lebensmitteln bestückt wurden. Kleine Teelichter standen in zwei exakten Reihen in der Mitte der Tische und beschienen bereits das Laubwerk von unten. Bunte Lampions in den Zweigen der Bäume erfüllten den gleichen Zweck mit einer Beleuchtung von oben. Solch eine Tafel lud nun wirklich zum Bleiben ein!
Schnell löste ich mich von der Betrachtung und ging diesem bunten Treiben entgegen. Auf meinem Weg traf ich auf eine kleine Gruppe von Personen, die um einen jungen Mann herum standen. Er saß auf einem Stuhl und eine rothaarige Frau bearbeitete gerade seine schulterlangen Haare. Auf dem Boden lagen weiße, rosa und rote Bänder, die anscheinend für das Schmücken der Haare gedacht waren.
Als ich bei der kleinen Gruppe ankam, sah die Rothaarige auf und lächelte:
„Hey, sei gegrüßt!“
Überrascht erwiderte ich den Gruß und stellte mich vor. In kurzen Worten erklärte ich mein kleines Desaster und fragte nach einer Abschleppmöglichkeit für meinen Wagen.
Die Rothaarige, Ruby, schüttelte nur den Kopf: „Nee, das wird heute nichts mehr. Das halbe Dorf ist hier.“ Sie blickte mich an und grinste: „Außerdem, warum bleibst du nicht einfach? Wir feiern die kürzeste Nacht. Es wird niemand bis zum Sonnenaufgang schlafen und es gibt ein großes Festessen.“
Einen kurzen Moment zögerte ich, da ich nichts dabei hatte: kein Mitbringsel, keine Matte und auch keine wärmere Kleidung, falls es kühl werden sollte. Der Dunkelhaarige, Sven, der nun einen perfekten Samurai-Zopf besaß, stand auf und verbeugte sich mit einem Lächeln:
„Komm sei unser Gast. Wir haben Decken für die Wärme, Brot gegen den Hunger und eine Menge freundlicher Gesichter, die du alle kennenlernen solltest!“
Eine blonde junge Frau, die sich als Lucy vorstellte und neben mir stand, knuffte mir ihren Ellbogen in die Seite: „Das ist unser Dichter, angehender Germanist…pass auf, er glaubt unwiderstehlich zu sein.“
Sven zwinkerte mir zu und Lucy lachte. Kurz entschlossen sprang er zu ihr, ergriff sie und trug die sich lauthals Wehrende zum See.
Nun konnte ich nicht mehr Nein sagen und nickte.
In der folgenden Stunde half ich, wo ich konnte: Brot schneiden, Ballons aufpusten, Kaffee kochen und selbst darauf achten, dass mir nicht ständig jemand meinen Tonbechern mit Wein nachfüllte. Gerade pflückte ich Wildblumen von der Wiese, als Ruby auf mich zukam und mir die Blumen aus der Hand nahm. Mit konzentriertem Gesicht blickte sie auf die bisher gepflückten Blüten.
„Mmmmh. Setz dich.“
Irritiert nahm ich auf dem nächstbesten Stuhl Platz und war mir ganz unsicher, was sie nun von mir wollte. Nach dem dritten „Mmmmh“ und einem Betrachten, als stünde ich auf dem Markt, wurde mir klar, was sie vorhatte. Zehn Minuten später zierten Bänder und Blumen mein nun geflochtenes Haar. Ein merkwürdiges Gefühl, da es für mich völlig neu war, meine Haare so zu tragen. Sie nickte zufrieden und blickte auf die Uhr.
„Es geht gleich los! Ich muss mich beeilen!“ Sie lächelte mich kurz an und verschwand in der Menge.
Ich setzte mich zu Sven und Lucy und bemerkte, dass langsam das geschäftige Treiben leiser wurde, bis es letztendlich fast erstarb. Lucy ergriff Svens und meine Hand. Überrascht schaute ich hoch. Sie verwies mit einem Nicken zu den Sitznachbarn. Erst jetzt sah ich, dass alle Besucher sich an den Händen hielten und eine junge Frau mir von der anderen Seite ihre Hand anbot. Eine Kette der Gemeinschaft! Ich freute mich. Das Hiersein fühlte sich überhaupt nicht mehr fremd an.
Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität,… André Breton
Mittlerweile lag die Dunkelheit über dem See. Über uns leuchtete der Abendstern. Wie viele Menschen sahen ebenso seinen hellen Schein? Es war nur noch das leise Rascheln der Blätter in den Bäumen zu hören. Das erste Quaken der Frösche im Schilfgras gesellte sich dazu. Ansonsten war absolute Stille.
Je länger ich den Himmel betrachtete, umso mehr Sterne zeigten sich. Plötzlich hörte ich den leisen Ton einer Querflöte. Überrascht löste ich mich vom Anblick des Himmels und sah sogleich, dass oben an der Straße, von der ich vorhin kam, ein junger Mann im Schein einer Taschenlampe, die durch jemand anderen gehalten wurde, erst ganz leise und dann immer lauter ein kleines Lied spielte. Da die Musik von einer Anhöhe kam, durchzogen die Töne den Raum über uns. Ich schloss die Augen und fühlte die schwingenden Harmonien auf mich herabsinken. Gänsehaut zog über meine Unterarme. Schön…
Als der letzte Ton verklang, wurde das Licht der Taschenlampe gelöscht und ich konnte den Flötisten nicht mehr erkennen. Die Dunkelheit verbarg ihn nun. Doch im nächsten Moment fing ein neues Licht meine Aufmerksamkeit ein. Jemand hatte das Feuer auf der Plattform angezündet! Erst noch ganz zaghaft, zeigten sich kleine Flammen und wurden zu einem gelb-orangem Schein, der sich langsam über die Mitte des Sees ergoss. So erkannte ich nun auch vier Männer am Rande der Plattform knien. Jeder von ihnen hielt kurze Schlegel in der Hand. Wie festgefroren verharrten sie in ihren Bewegungen. Nur mit Badehosen bekleidet zeigte sich der Schein des mittlerweile größer gewordenen Feuers auf ihren Oberkörpern. Mit verneigten Köpfen schienen sie auf etwas zu warten. Ein Rascheln am Rande des Schilfes ließ meinen Blick wandern. Ein kleines Ruderboot wurde von zwei Männern herausgezogen. Erstaunt erkannte ich Ruby in einem weißen Kleid im Boot sitzen. Ihr offenes Haar legte sich weich über ihre Schultern und ein weißer Blütenkranz hob die rote Farbe deutlich hervor. Die Wasseroberfläche zog Ringe und begleitete die Bewegung des Bootes mit leichtem Plätschern.
Zur gleichen Zeit hoben die Männer an der Plattform ihre Köpfe und begannen ihre Schlegel gegen die Haltepfosten zu schlagen. Erst ganz leise, dann immer fordernder erklangen die Rhythmen, die über das Wasser die Zuschauer erreichten. Fast zwingend bannte der Takt die Zuhörenden. Auf einem Schlag erhoben sie ihre Schlegel, legten sie auf den Boden und standen auf.
Mit ausgebreiteten Armen ließ sich die nun stehende Ruby auf die Plattform heben und die Männer setzten sich wieder auf ihre alte Position. Fast unwirklich stand die junge Frau vor dem Feuer und blickte zum Strand. Der goldene Schein überflutete ihr loses Haar und ließ sie fast wie eine Erscheinung wirken. Gebannt betrachtete ich das Geschehen und bemerkte mit einem Blick auf die Seite, dass sich noch immer alle an den Händen hielten. Als ich meinen Blick ein wenig schweifen ließ, sah ich die Aufmerksamkeit und Freude in den Gesichtern der Menschen. In diesem Moment erschienen vier weitere Lichter um den See herum. Wieder im Schein von Taschenlampen zeigten sich zwei Männer und zwei Frauen, die ganz in heller Kleidung vor hüfthohen Trommeln standen und die gespannte Haut mit ersten Schlägen zum Vibrieren brachten.
Ich dachte, dass mein Zwerchfell bereits mit den ersten Rhythmen seine Grenzen erfahren hätte, doch dem war nicht so. Das tiefe Trommeln fand seinen Weg zu der Mitte meines Sonnengeflechtes und brachte es zum Klingen. Mein Herz klopfte immer lauter. Ich spürte es schlagen, als wollte es den ursprünglichen Klängen folgen. Dann setzte es fast aus. Ruby begann mit einer tiefen wunderschönen Stimme zu singen. Durch das hügelige Gelände fing sich ihre Stimme als stünde sie in der Oper. Deutlich hörte ich ihre Worte, die dem Unwirklichen noch eine weitere Ebene hinzufügten:
Sie sang vom LICHT, das die Welt von Anbeginn begleitete und das Erscheinen der Seelen möglich machte.
Sie sang von der LIEBE, die diese verband und unserem Da-Sein den Weg zeigte
und sie sang vom LEBEN, das mit der Liebe erst wirklich seinen Sinn hat, denn wer nicht liebt, dem bleibt das Geheimnis des Lebens versagt.
Als der letzte Ton verklungen war, schienen meine Gedanken förmlich aus einer Trance zu erwachen. Die Trommler setzten noch einen überlauten Schlussakkord, der mit einem allgemeinen Jubeln begleitet wurde. Die immer noch gefassten Hände lösten sich und alle sprangen auf. Völlig irritiert sah ich den Menschen hinterher. Sie liefen zu den Tischen, griffen die Teelichter und gingen dann vorsichtig, die Flamme schützend, zum See. Jeder Einzelne setzte sein Licht auf die spiegelglatte Oberfläche und schaute ihm einen kleinen Moment hinterher.
Als ich mein Licht auf den See setzen wollte, hielt mich Sven einen kleinen Augenblick zurück.
„Du kannst dir etwas wünschen. Heute ist die kürzestes Nacht des Jahres!“
Ich betrachtete die kleine Flamme in meinen Händen. Ich hatte einen Wunsch. Langsam setzte ich mein Licht auf das Wasser und sandte meinen Traum in das Funkeln des Abends.
Ein Traum, den wir alle schon mal geträumt haben! Wunderschön!
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Stimmt, das ist meine Lieblingsvorstellung von einem Mittsommer. Es freut mich, dass es Dir gefällt 🙂
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Einfach wunderschön, sagenhaft und wie ein Traum. Danke Dir sehr für diese Geschichte zum eintauchen und (mit-)erleben.
PS: Habe schon sehr darauf gewartet, wieder von Dir zu lesen 🙂
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Vielen Dank, liebe Serap 🙂
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