Ich stand vor dem verbotenen Regal. Na klar! Es war die absolute Prüfung meiner Standfestigkeit. Hätte sie nicht einfach ausverkauft sein können? Ein einziges Exemplar lachte mir entgegen. Dort lag meine höchstpersönliche Herausforderung, die mich mit dem Äußeren nicht nur in den Bann schlagen konnte, sondern sozusagen mit den verwerflichen Ecken der Faltung schier in den Wahnsinn trieb. Schokolade…
Eigentlich wollte ich nur den kürzeren Weg zu den Nudeln einschlagen. Naja, vielleicht machte sich mein Unterbewusstsein auch über mich lustig. Nach dem Motto: Erinnern wir uns noch an die Vorsätze der letzten Woche? Katzen wurde auch immer wieder der Wollfaden vor die Nase gehalten, weil ihr Fokussieren auf dieses bewegende Fadenende für den Rest der Welt so putzig erschien.
Ich starrte in das Regal. Konnte es als Zeichen gesehen werden? Hörte ich da nicht eine leise Stimme, die mich rief? „Nimm mich mit, ich bin hier so allein…“? Diese Tricks kannte ich alle! Ich war standhaft und hielt mich am Einkaufswagen fest. Eigentlich müssten die Nudeln aus der anderen Ecke des Ladens richtig laut jodeln, doch da war nichts zu hören. Einzig allein die Schokolade rief.
Mitten im Zwiegespräch mit der mir so nahe liegenden Verlockung, griff plötzlich eine Hand über meinen Kopf und wollte sich meinem gedanklichen Gesprächspartner nähern. Dafür machte ich Kampfsport! Es ging ziemlich schnell: Eine Handbewegung, ein Schrei und schließlich ein männliches Etwas, das sich seine Hand unter den Arm klemmte und wie wild fluchte. Ich konnte nichts dafür! Das war eine reine affektive, subtile Reaktion meines Körpers! Erschrocken löste ich mich aus der angespannten Sprunghaltung einer Tigerin und entschuldige mich wortreich.
„Verdammt noch mal! Geht’s noch?“
Entrüstet und mit einer berechtigten Zornesfalte auf der Stirn, funkelte mich ein Mann mit unbestimmtem Alter an. Er war nicht der konservative Typ, eher der lockere Jeans-T-Shirt-Mensch, der anscheinend gerade für sein Abendbrot einkaufen wollte. Nach einem kurzen Blick in den Einkaufswagen zu urteilen, begann er mit dem Nachtisch.
Mit hochrotem Kopf fand ich einfach keine Erklärung für mein Verhalten. Laut diverser Studien soll diese Leckerei nicht süchtig machen, da die dafür notwendigen Stoffe in viel zu geringen Mengen vorhanden sind. Vielleicht sollte ich einmal meinen Stoffwechsel der Wissenschaft zur Verfügung stellen, die würden sich über die Werte wundern.
Jetzt galt es eine Situation zu entschärfen und die Fronten zu klären. Noch immer lag die Herausforderung im Regal und schaute wahrscheinlich gespannt von einem Kunden zum nächsten. Das Dasein einer zur Schau gebotenen Ware war nicht immer einfach, da wollte sich das Opfer auch mal amüsieren.
Jetzt war die Chance da, mir selbst treu zu bleiben. Ich konnte einerseits sehr großzügig diesem etwas verletzten, nach einem Moment der Betrachtung wirklich sympathischen Menschen, den Vortritt lassen. Ich könnte ihm den Glauben an die Menschheit schenken, indem ich meinen Fauxpas wieder gut machte und ihm den Vortritt ließ. Außerdem gefielen mir seine blau-grauen Augen, die aus seinem etwas verärgerten Gesicht mich anfunkelten. Manchmal sind es die Kleinigkeiten, die für die Art der Reaktionen verantwortlich sind.
Mich selbst verwünschend, tat mir meine Kurzschlusshandlung wirklich leid. Unglaublich, wie wenig das eigene Handeln in bestimmten Momenten kontrolliert werden konnte! Ich griff die Schokolade und reichte sie wortlos dem Opfer meiner Affekthandlung. Verblüfft schaute er mich an, nahm die Tafel, legte sie in seinen Einkaufswagen und behielt mich dabei bewusst im Auge.
Eine leise Stimme in meinem Inneren schimpfte trotzdem mit mir: Du machst das doch nur, um deinem eigenen Versprechen gerecht zu werden! Was hier nach schuldbewusstem Nachgeben aussah, war eindeutig Freude über das Erreichen eines Zieles!
Wo fängt nett sein an und wann ist es echt? Selbstverständlich möchte ich gut zu anderen sein. Aber was heißt das denn? Galt die Handlung oder wurde die Intention bei der Beurteilung berücksichtigt? Wo hörte „gut“ auf?
Es gibt Stimmen, die das positive menschliche Handeln sehr wohl unter einem genauen Blick betrachten. Treibt der Denkende die Problematik des Gut-Handelns auf die Spitze, könnte sogar behauptet werden, die Menschen handeln nur so, um sich anschließend gut zu fühlen. Ist es aber dann „schlecht“? Für den Beschenkten nicht. Ich komme mir vor wie Justitia, die mit verbundenen Augen vielleicht nicht ganz genau hinsehen möchte, da das Ergebnis irgendwie stimmt.
Matthieu Ricard, ein Molekularbiologe, Zellgenetiker und auch Philosoph, schrieb über Nächstenliebe und den engagierten Einsatz zum Wohle Anderer(1). Er unterschied bei der Definition von Altruismus(2) in einerseits der Haltung, die sich in der Tat äußerte und andererseits in der Motivation, die das Verhalten prägte. Gutes Handeln ließ sich somit aus verschiedenen Blickwinkeln erfassen. Eine Bewertung ist deshalb nicht immer einfach.
Zufrieden lehnte ich mich immer noch auf meinen Einkaufswagen und betrachtete nun die leere Regalfläche. Der Mann war mit einem Nicken und seinem erkämpften Schatz weiter in Richtung Haushaltswaren gestapft. Schon wollte ich mein zufriedenes Gefühl auskosten, indem ich mir einen klitzekleinen Kinderriegel als Belohnung in den Wagen legte, als ein weiterer Gedanke meine Zufriedenheit in der Luft zerriss.
Setze ich diesen Maßstab auch bei Anderen ein? Bliebe ich bei einem Anderen, der mir etwas Gutes tat, ebenso ungenau? Wäre es egal, aus welchem Grund der Andere handelte? Das sind Fragen, die konnten beim Einkaufen echten Stress auslösen. Etwas ruppig zog ich in der nächsten Reihe die Spaghetti aus dem Regal und warf sie in den fahrbaren Gitterkasten. Ich hatte überhaupt keine Lust mehr zum Einkaufen. Die Antwort auf meine Frage missfiel mir. Mir wäre es nicht egal! Das brachte mich wieder zurück an den Anfang meiner Gedankenreihe. Aus dem Grunde mochte ich Monopoly nicht: Gemeinschaftskarte „Du musst wegen Verdacht auf Betrug in U-Haft. Gehe in das Gefängnis! Begib dich direkt dorthin. Gehe nicht über Los. Ziehe nicht € 2 Mio. ein.“ Ich verlor dieses Spiel ständig, selbst gegen Zehnjährige.
Ungehalten bezahlte ich, packte meine Einkäufe ein und schritt in Richtung Ausgang.
„Hallo! Sie können jetzt nicht gehen!“
Neugierig schaute ich auf. Auf der anderen Seite der Einkaufspassage verkaufte ein Bäcker Brötchen, Kuchen und Kaffee. Bunte Stehtische luden zum Genießen und Klönen ein. An einem davon stand der mir bekannte Kunde mit einem Lächeln und zeigte auf den Tisch vor sich. Aus zwei Bechern dampfte Kaffee und dazwischen prunkte die Schokolade mit einer geöffneten Umhüllung. Die Tafel war in zwei Hälften geteilt.
Ich nahm meine ganzen Gedanken und warf sie ohne zu zögern in den unbestimmten Raum der vielen Warums und Weshalbs. Jetzt war es mir egal, warum mein Gegenüber dieses freundliche Lächeln zeigte.
Musste etwas Schönes immer ergründet werden? Ich glaube nicht. „Gut“ ist einfach gut.
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Oh, ich hab dich wirklich vermisst und freu mich sehr wieder von dir zu lesen!
Zum Text: du lässt ihn ausgerechnet beim Einkaufen spielen. Das ist eines meiner Lieblingsthemen, Stichwort nachhaltiger/bewusster Konsum. Den bio-KäuferInnen wird ja oft vorgeworfen sie seien Gutmenschen, wollen (nur) ihr Gewissen reinwaschen und sie seien hypermoralisch, wissen was für andere/die Welt gut ist. Da taucht genau die Frage auf wie beim weitergeben der Schokolade – wie egoistisch ist Altruismus? Der Ansatz von Richard war mir noch nicht bekannt, dass schau ich mir mal an – danke!
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Vielen, vielen Dank, liebe Anna! Altruismus ist ein sehr spannender Bereich. Es gibt viele Blickwinkel, die ich sofort unterschreiben würde. Es gibt aber auch Argumente, die mir nicht immer gefallen und sich trotzdem nicht wegdiskutieren lassen. Vielleicht es manchmal auch nur wichtig, für sich selbst einen Standpunkt zu finden und sich zu positionieren. „Wahrheit“ ist ein großer Begriff…
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Den eigenen Standpunkt mal zumindest sich selbst gegenüber zu definieren ist sicher ein guter Weg. So kann man auch mit Gegenargumenten sachlicher umgehen. Und man ist halt auch nicht so, wie man vielleicht gerne/vernünftigerweise sein würde…
Diesen Beitrag hier möchte ich dir empfehlen, der Gedanke begleitet mich jetzt seit ein paar Tagen…
https://wp.me/p93rE7-1u
Liebe Grüße, Anna
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Danke für den Link. Jeder findet seine eigenen Worte, um das Geschehen der Welt zu beschreiben. Ich bin ebenso überzeugt, dass uns nichts umsomst widerfährt, sei es schmerzlich oder schön. Neue Erfahrungen reißen uns aus dem Alltagstrott und helfen, uns und unser Tun aus einem anderen Blickwinkel sehen zu können.
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Warum erlegt man sich eigentlich solche Zwänge auf, um dann tage- und wochenlang damit zu kämpfen?
Vielleicht entwickelt unterschwellige „Gier“ nur so stark wegen des auferlegten Verbots oder der verordneten Selbstkasteiung?
Bei unseren Kindern standen immer Süßigkeiten frei verfügbar auf den Tischen. Das Angebot wurde manchmal genutzt, niemals übermäßig. Freunde dagegen, die zu Besuch waren und denen ihre Eltern das Naschen verboten hatten, bedienten sich bei uns allerdings in großem Umfang, stopften sich gar die Taschen voll, um das Erbeutete dann bei sich zuhause sogar noch zu verstecken.
Auflagen, durch andere oder selbst auferlegt, tendieren doch immer dazu, bewusst mit einem Widerspruch konfrontiert zu werden. Und auf Dauer kann es da wohl – wie die Erfahrung zeigt – durchaus zu Psychosen kommen.
Deinem/r Protagoniste/in kann ich nur raten: geniessen ist weit gesünder, als sich die Seele zukleistern!
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Ich weiß, was du meinst. Würde aber meine Protagonistin die geliebte Schokolade tatsächlich täglich genießen, dann passt die Jeans nicht mehr und das ist dann ein wirkliches Problem 🙂
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